Zeitenwende - Wende wohin?
Seit der Aussage eines deutschen Politikers (wer ist Olaf Scholz gleich noch mal?) gilt das Wort ‘Zeitenwende‘ als geflügeltes Wort -zumindest in der deutschen Öffentlichkeit. 2022 wurde es von der Duden-Redaktion sogar zum ‚Wort des Jahres‘ gekürt und bezeichnet „das Ende einer Epoche oder Ära und der Beginn einer neuen Zeit“.
Der Zusammenhang, in dem es damals benutzt wurde, war der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Mittlerweile hat sich dieser Begriff verselbständigt und taucht in den verschiedensten Zusammenhängen auf. Von der Klimakrise, über das Voranschreiten der Digitaliserung mit dem zunehmenden Einfluss von Künstlicher Intelligenz, bis eben zum Wiederaufllackern des eigentlich für überwunden gehaltenen ‚Kalten Krieges‘ zwischen Russland und ‚dem Westen‘.
Nachdem ich selbst nun schon seit einigen Jahrzehnten auf dieser Erde weile, habe ich - glaube ich - im Laufe dieser Zeit schon so manche ‚Zeitenwenden‘ erlebt - den einen oder anderen Weltuntergang inklusive: Die Zeit der Flower-Power-Bewegung mitsamt der mit ihr einhergehenden emanzipatorischen und sexuellen ‚Revolution‘ habe ich leider nur als Kind und damit nicht wirklich bewusst miterlebt. Aber spätestens in den 1970er-Jahren, als die innerdeutschen Gesellschaft durch RAF-Terror in ihren Grundfesten erschüttert zu werden schien, zeitgleich die sich abzeichnende Umweltkatastrophe in Form von Waldsterben und Ozonloch die Notwendigkeit eines ökologischen Umdenkens mehr als deutlich machte, lag der Hauch einer Zeitenwende in der Luft. Anfang der 1980er dann die Bedrohung durch russische und amerikanische Atomwaffen (wie sich Geschichte doch immer wiederholt!). 1986 schließlich Tschernobyl als mögliches Endzeitszenario einer atomaren Verseuchung.
Dazwischen gab es dann zur Abwechslung auch eine Zeitenwende im positiven Sinne: Der Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereingung, gefolgt von einer immerhin mehr als 30-jährigen Phase der Entspannung im Ost-Westkonflikt!
Dann der Jahreswechsel 2000 (Y2K) , als Zweifel daran, ob Computer den Sprung von 1999 auf 2000 bewältigen würden, teilweise zu vorhergesagten Untergangszenarien führte. Natürlich 9/11, das mit dem Einsturz der Türme des World Trade Centers eine weltweite Angst vor islamistischem Terror auslöste. Der Börsencrash von 2008, als die Finanz- und anschließend die gesamte Weltwirtschaft ins Trudeln geriet. Um 2015 herum das Anschwellen der Flüchtlingsströme weltweit, was in den wohlhabenden Staaten eine bis heute anhaltende Angst vor Überfremdung auslöste. Und schließlich Anfang der 2020er jahre eine Pandemie, die die Welt in nie da gewesener Weise monatelang bzw. jahrelang in Atem hielt.
Aktuell ist es der Ukraine-Konflikt, der wiederum seit Jahren für anhaltende Spannung und Verunsicherung sorgt und der als Auslöser für die ‚Zeitenwende‘-Aussage gilt. Allerdings - und das gilt wohl für die meisten der genannten Krisen(Wende?)zeiten - ist die Wahrnehmung der jeweiligen Ereignisse als potenzielle Zeitenwenden immer abhängig von der Position des Betrachters, gesellschaftlich wie geographisch. Der Ukraine-Konflikt wird beispielsweise im asiatischen oder lateinamerikanischen Raum wohl nicht wirklich als das alles beherrschende Thema behandelt.
Unabhängig von der Frage, in wie weit diese Krisen tatsächlich in gewisser Weise eine Wende einläuteten (schließlich ist die wörtliche Bedeutung des Wortes ‚crisis‘ selbst ‚entscheidende Wende‘) ist es eher die Art der Darstellung in der Öffentlichkeit, die mich immer wieder irritiert. Ein Weltuntergangsszenario scheint das nächste zu jagen, wodurch Menschen in eine Art dauerhafte Alarmbereitschaft versetzt werden(sollen?). Über die Folgen dieser nun schon seit Jahren anhaltenden Bedrohungs- und Angstszenarios habe ich mir in meinem letzten Blog-Artikel ‚Angst - die neue (Volks)Droge?‘ https://www.peddinghaus-seminare.de/angst___die_neue_volksdroge.html bereits ausführlicher Gedanken gemacht.
Neben den negativen Folgen solcher - auch und vor allem medial geschürten - Ängste und Verunsicherung für die allgemeine Stimmung im Land und der darin lebenden Menschen stellt sich mir spätestens seit Corona immer wieder die Frage Cui bono – wem nützt die ganze Aufregung?
Mir persönlich jedenfalls nicht, denn die daraus verbreitete Stimmung, einer Mischung aus Bedrohung, Hysterie und Hilflosigkeit, tut wohl keinem Menschen auf Dauer gut.
Damit will ich reale gesellschaftliche, ökologische oder gesundheitliche Gefahren keinesfalls kleinreden. Was mir jedoch auffällt, ist die zunehmendeTendenz, diese Krisen in einem Ausmaß zu dramatisieren, dass bei mir unweigerlich der Gedanke auftaucht: In wie weit werden diese Krisen genutzt, um bestimmte ideologische, wirtschaftlich oder sonstige Interessen durchzusetzen?
Bei der derzeitigen Lage der zunehmenden Verhärtung verschiedener ‚Fronten‘, sei es im Ukraine-Konflikt oder in Sachen Klimapolitik oder Anwendung von KI, scheiden sich mehr und mehr die Geister. Dabei wird aus meiner Perspektive immer deutlicher, dass bestimmte Einflüsse und Strukturen, die vorher eher im Hintergrund agierten, um die Dinge in eine bestimmte Richtung zu lenken, heute sehr transparent und geradezu offensichtlich zutage treten. Die Macht und der Einfluss oligarchischer Strukturen in Ost und West auf die Politik - dort Öl-und Gasmagnaten, hier Tech-Milliardäre und auf beiden Seiten wieder einmal Rüstungskonzerne - war vermutlich schon sehr lange vorhanden, jetzt kann sich jedoch jeder einzelne Bürger mit Internetanschluss selbst die nötigen Hintergrundinformationen beschaffen. Auch die Offenlegung so genannter ‚geheimer‘ Informationen - vorher die Aufgabe investigativer Journalisten(Stichwort ‚Watergate‘) - kann sich die Privatperson heutzutage aus dem Netz herunterladen und sich ihren eigenen Reim darauf machen.
Und genau bei diesem Punkt besteht bei mir derzeit eine latente Hoffnung auf eine tatsächliche Zeitenwende, nämlich in Form eines sich ausbreitenden Bewusstseinswandels:
Ich beobachte in meinem Umfeld bei vielen Menschen ein wachsendes Bewusstsein , sich ernsthafte Gedanken über Sinn, Maß und Richtung unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu machen. Ob damit der viel beschworene, seit Jahren von manchen sehnlichst herbeigewünschte Bewusstseinwandel einhergeht - Stichwort ‚Zeitalter des Wassermanns‘ - sei dahingestellt. Ich kann mich heute aber des Eindrucks nicht erwehren, dass wir uns möglicherweise tatsächlich in einer Übergangsphase zwischen zwei Zeitaltern befinden könnten. Man beachte den Konjunktiv.
Worum könnte (sic!) es bei einem sochen Bewusstseinswandel nun gehen? Zum einen weg vom rational und vor allen Dingen materiell beherrschten postindustriellen Zeitalter hin zu einer Epoche, die die natürlichen Bedürfnisse und geistige Entwicklung des Menschen wieder mehr in den Fokus rückt. Einer Phase, in der vermeintlich stabile Systeme – Klima, geopolitische Ordnung, Gesundheit, wirtschaftliches Wachstum – an ihre Grenzen stoßen. Diese Grenzen des materiellen Wachstums auf diesem Planeten scheinen ja schließlich schon lange erreicht, wenn nicht überschritten zu sein.
Im Bereich der geistigen Entwicklung könnte es dagegen durchaus noch Luft nach oben geben. Ganz im Sinne des römischen Philosphen Seneca, der vor zweitausend Jahren schon bemerkte: „Es gibt zu denken, dass viele den Körper üben, wenige dagegen den Geist“.
Vielleicht ist in diesem Zusammenhang ja die rasante Ausbreitung der Künstlichen Intelligenz ein Hinweis darauf, dass ein qualitativer Bewusstseinsprung im Geistigen im Gange ist. Die dabei einzuschlagende Richtung ist dabei sicherlich noch zu diskutieren. Wie der französische Schriftsteller Jean Giono es formulierte: „Fortschritt an sich ist noch keine Leistung. Es kommt auf die Richtung an“. Bevor wir also die Grenzen der Künstlichen Intelligenz ausloten, sollten wir es vielleicht in erster Linie mit unserer natürlichen Intelligenz versuchen.
Da ich selbst in Krisensituationen - auf der persönlichen wie auf der gesellschaftlichen Ebene - dazu neige, in allem auch den positiven Aspekt erkennen zu wollen, halte ich es für durchaus möglich, dass die aktuellen Krisensymptome Anzeichen eines sich immer mehr aufschaukelnden Gesamtsystems sein könnten, das auf einen Wendepunkt zusteuert. Im Biologieunterricht habe ich gelernt, dass ökologische Systeme bis zu einem bestimmten Sättigungsgrad expandieren, bevor sie unter dem Einlus zunehmende Störfaktoren kippen und kollabieren. Manchmal brechen sie zusammen, weil sie sich im wahrsten Sinne des Wortes überlebt haben – um Platz für Neues zu schaffen.
Fazit: Im Augenblick kann ich nur versuchen, die allgemeine Entwicklung zu beobachten, dabei in mir selbst in-takt zu bleiben und mich nicht durch äußere Ereignisse und Katastrophenszenarien in Panikstimmung versetzen zu lassen. Im Zweifelsfall lebenstüchtig statt kriegstüchtig.
Gleichzeitig kann ich versuchen, meine eigene Bewusstseinsbildung voranzutreiben und nach Anzeichen Ausschau zu halten, die neue Perspektiven vermitteln. Wenn ich mich dann mit anderen austausche und zusammenschließe, könnten auch größere gesellschaftliche Entwicklungen in Gang gesetzt werden. Die wachsende Zahl von Gemeinschaftsprojekten, die sich die Rückbesinnung auf grundlegende menschliche Werte wie Solidarität, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft auf die Fahnen geschrieben haben, sind für mich schon seit einiger Zeit zumindest ein Hoffnungsschimmer für eine Zeitenwende in eine menschengerechtere Zukunft.
Im Verlauf der Menscheitsgeschichte zeigt sich, dass große gesellschaftliche Veränderungen nie durch die jeweiligen Herrschafssysteme selbst, sondern immer durch eine Bewegung von außen herbeigeführt wurden. Vielleicht stehen wir ja derzeit am Beginn einer neuen Bewegung?
Ich wäre jedenfalls gerne dabei.
Nach meiner früheren Beteiligung an der damaligen ökologischen Bewegung - Stichwort ‚Atomkraft - Nein danke!‘ und ‚Und wer rettet den Wald?‘ - und der damit Hand-in-Hand gehenden Friedensbewegung - Stichwort ‚Frieden schaffen ohne Waffen‘ und ‚Petting statt Pershing‘ - finde ich mich heutzutage zu meinem eigenen Erstaunen in einer Situation wieder, in der der Wunsch nach einer persönlichen Beteiligung an einer gesellschaftlichen, zukunftsorientierten Bewegung wieder in mir aufkeimt. Eine Bewegung, die sich auf die Fahnen schreibt, friedens- statt kriegstüchtig sein zu wollen und eine gesellschaftliche Neuausrichtung anstrebt: Eine Wende vom einseitig materiell und von (meist männlich dominierten) Machtstreben geprägten Weltbild, hin zu einer Welt, in der menschliches Leben wieder mehr von der Realität geistiger Einflüsse und ethischer Grundsätze bestimmt und genährt wird.
Klingt vielleicht naiv idealistisch, zugegeben, aber ohne Visionen und Ideale ist noch nie etwas weitergegangen auf diesem Planeten.