Über das Gendern und andere Verunsicherungen


Neulich saß ich auf meinem Balkon und dachte so vor mich hin.
Ich dachte an den Balkon, auf dem ich saß. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er mich jetzt schon so viele Jahre mit seinen vier stabilen Stützen loyal und ohne zu murren erträgt.
Dann dachte ich an den Garten unter mir, der angesichts der zunehmend frühlingshaften Temperaturen zu neuem Leben erwacht. Wieder einmal offenbart er dem Auge des Betrachters einen bunten Farbklecks nach dem anderen. So wie jedes Jahr. Auch hier sehr viel Loyalität, die mir ein wohltuendes Gefühl der Sicherheit vermittelt.
Als nächstes dachte ich an die Welt, in der ich lebe, an die kleine und an die große. Das erwies sich als Fehler. Zumindest, was die Gedanken an die große Welt anbelangt.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht. Bei mir ist es jedenfalls so, dass ich, kaum dass ich einen Gedanken an die große Welt denke, meine Stimmung umschlägt. Gerade noch verweile ich in ausgesprochen friedlicher und liebevoller Stimmung mit den Gedanken in meiner kleinen Welt, sprich meinem Balkon und dem dazugehörigen Garten. Plötzlich drängen sich mir Gedanken an die große Welt außerhalb meines Gartens auf und ich bin jäh aus meinem inneren Frieden gerissen.

 

Dabei handelte es sich in diesem speziellen Fall nicht um die großen Fragen von Krieg und Frieden, um Klimawandel und ähnliche beunruhigende Themen. Nein, es war einfach nur der Gedanke an die Gewissheiten des Lebens, an die loyalen Dinge des Lebens. So wie mein Balkon aufgrund der Gesetze von Schwerkraft und Statik auf vier Grundpfeilern ruht und mir dadurch die Sicherheit vermittelt, dass ich ihn ohne Bedenken und ohne Angst vor einem Absturz ins Bodenlose betreten kann,. Auch mein Garten demonstriert mir jedes Jahr aufs Neue, in einem immer wiederkehrenden Rhythmus von Wachstum und Vergehen, dass es in dieser Welt gewisse Gesetzmäßigkeiten gibt, auf die man sich verlassen kann. Im besten Sinne also loyal, sprich gesetzestreu.
So wie es in meiner kleinen Welt aussieht, so wünsche ich es mir eigentlich auch in der großen Welt.
Und genau da beginnt der Stimmungsumschwung.
Manchmal habe ich beim Gedanken an die große Welt das Gefühl, dass es selten eine Zeit gab, in der so wenig Sicherheit und Verlässlichkeit zu finden ist, wie heute.
Natürlich gab es durch die Jahrhunderte hindurch schon viele, noch wesentlich unsichere Zeiten im Sinne von Kriegen, Hunger und Armut. Meine Eltern beispielsweise haben während des 2. Weltkrieges so viel Unsicherheit und Erschütterung erlebt, dass es im Vergleich dazu heutzutage nahezu paradiesisch friedlich und sicher zugeht. Allerdings immer davon abhängig, wo auf dem Planeten man sich gerade befindet.

 

Diese Art der Verunsicherung ist es aber gar nicht, die mich bei meinen Gedankengängen auf meinem Balkon beschäftigte. Nicht die Erschütterung äußerer Sicherheiten ist es, die mich derzeit beunruhigt, sondern eine tiefgreifende Verunsicherung im Inneren des Menschen, die ich in mir und um mich herum wahrnehme.
Dinge, die mich seit meiner Kindheit begleiteten und mir Sicherheit und Orientierung im Leben vermittelten, geraten immer mehr ins Wanken oder lösen sich gar komplett auf. Der Glaube beispielsweise, dass jeden Abend um 20 Uhr in jedem anständigen deutschen Haushalt die neueste Aktualisierung der Wahrheit in der Tagesschau verkündet wird.  Oder dass in der Tageszeitung am nächsten Morgen genauere und noch wahrere Hintergründe zu den gestrigen Nachrichten vermittelt werden. Spätestens seit Corona ist für mich überdeutlich geworden, dass die mediale Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rahmen eindeutig einseitig geschieht, kritische Stimmen systematisch im wahrsten Sinne ausgeblendet werden. Angesichts meines ersten Berufswunsches, Journalist werden zu wollen, kann ich heute nur konstatieren, dass der moderne Journalismus auch nicht mehr das ist, was er vielleicht damals schon nicht war.
Im Zeitalter von KI, sprich Künstlicher Intelligenz, wird es dann sowieso fast unmöglich, zwischen tatsächlicher Wahrheit und ‘künstlicher Wahrheit’ zu unterscheiden. Ob Texte, Filme oder ganze Kunstwerke  von einem real existierenden Menschen oder aber einer programmierten Maschine geschaffen wurden - wer vermag’s am Ende noch zu unterscheiden? An sich ist ja, wie so oft, nicht das Hilfsmittel KI das Problem, sondern die Art und Weise, wie der Mensch damit umgeht. Ich habe ja gar nichts dagegen, wenn mich mein Navi mittels KI immer sicherer zu meinem Ziel lotst. Mir gruselt allerdings bei der Vorstellung, dass ich mit Hilfe unzähliger, sich selbst steuernden Assistenzsysteme des selbständigen Denkens immer mehr enthoben und entwöhnt werde. Will ich wirklich einen immer größeren Teil meines Lebens in die Hände eines künstlichen Steuerungsprogramms legen? Ganz zu schweigen von der Gefahr des allmählichen Verschwindens der natürlichen kreativen Intelligenz des Menschen zugunsten von hochintelligenten, aber völlig uninspirierten Algorithmen.

 

Die zweite Aspekt meiner allgemeinen Verunsicherung besteht in dem derzeit zu beobachtenden Trend, dass politisch jahrzehntelang erprobte Kategorien wie rechts-links, pazifistisch-kriegerisch, kapitalistisch-ökologisch, vollkommen über den Haufen geworfen werden. Ich hatte in der Gründungsphase der Partei ‘Die Grünen’ noch eigenhändig Plakate an Hauswände geklebt mit der Aufschrift ‘Frieden schaffen ohne Waffen’. Wenn ich mir dann die heutige Regierungspartei ‘Bündnsi 90/ Die Grünen’ ansehe, bin ich, gelinde gesagt, irritiert. Um es mit den Worten des früheren Fernsehmoderators Harald Schmidt zu sagen: “Kaum ist man für Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, schon wird man in die grüne Ecke gestellt”. Die alten Kategorien links-rechts mit klaren Positionen zu Krieg und Frieden, zu Wirtschafts-Kapitalismus und Öko-Sozialismus  sind irgendwie abhanden gekommen. Oder werden neu interpretiert. Rechts scheint heute alles zu sein, was der als korrekt demokratisch eingestuften Linie widerspricht. Da liegt der Gedanke nicht mehr so fern, dass sich in unserer Gesellschaft mittlerweile eher eine Meinungsvereinheitlichung statt tatsächlicher Meinungsvielfalt auszubreiten scheint.

 

Apropos Vielfalt: Als dritten Aspekt meiner montanen Verunsicherung möchte ich an dieser Stelle noch auf die derzeit vorangetriebene Form der Emanzipation der Frau und diverser Geschlechter eingehen, dem Gendern. Schließlich steht dieses Wort ja auch schon in der Überschrift dieses kleinen Traktats.
Nachdem unstrittig ist, dass das Wort und die Sprache wohl eines der wirksamsten Mittel ist, um Zwischenmenschlichkeit herzustellen, kann Sprache eben auch dazu benutzt werden, im zwischenmenschlichen Bereich Macht auszuüben und Ohnmacht auszulösen.
So wie bei mir. Ich fühle mich manchmal tatsächlich etwas ohnmächtig angesichts der neuen Sprachregelungen, die vor allen Dingen das Thema Mann-Frau betreffen. Früher war es einfacher. Da gab es Toiletten für Männer (englisch Gents) und für Frauen (englisch Ladies). Heute gibt es wahrscheinlich demnächst noch welche für Taucher (englisch Divers). Scherz.
Das, was man früher als positiv besetzten Begriff für einen Menschen benutzte, der gerne etwas außerhalb der üblichen Bahnen dachte, der Begriff des ‘Querdenkers’, muss heute eigentlich in ‘Queerdenker:in’ umgewandelt werden. So wie es heutzutage üblich zu sein scheint, von klein auf das eigene biologische Geschlecht erst einmal grundsätzlich in Frage zu stellen und sich mehrere Optionen offen zu halten, so hat sich der politisch korrekte Geschlechtersprech in eine Richtung bewegt, die mich zweifeln lässt. Zweifeln an der Folgerichtigkeit der politisch korrekten Ausdrucksweise.
Natürlich hat sich die Sprache schon immer dem gesellschaftlichen Wandel angepasst. Durch den Einfluss verschiedener Kulturen auf eine Sprache, wie dem Jiddischen im Deutschen oder den in unserer Zeit allgegenwärtigen Anglizismen, gewinnt eine Sprache möglicherweise an Vielfalt und ist eben Ausdruck des jeweiligen Zeitgeists. Der mit Fremdwörtern gespickte intellektuelle Austausch im Wissenschaftsbereich oder die alle Eventualitäten einkalkulierenden Sprache des Juristen hat ebenfalls deutliche Spuren im allgemeinen Sprachgebrauch hinterlassen. Sprache bleibt nicht stehen und verändert sich.
Für mich besteht jedoch ein gravierender Unterschied zwischen einer Sprache, die sich den gesellschaftlichen Einflüssen Stück für Stück auf natürliche Weise öffnet und anpasst und einem politisch bestimmten und quasi verordneten Sprachgebrauch. Das erinnert mich dann doch zu sehr an eine Art Gleichschaltung nicht nur des sprachlichen Ausdrucks, sondern am Ende auch des Geistes, der in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bin sehr für Gleichberechtigung jeglicher Menschen inklusive ihres jeweiligen Glaubens, Rasse und Geschlechts. Wenn mir jedoch sehr nachdrücklich nahegelegt wird, dass die Befreiung der Frau und diverser anderer Geschlechter durch die richtig richtige Sprachformulierung von außen gesteuert werden soll, fühle mich an Albert Schweitzers Satz erinnert: “Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder, wenn sie sich beibringen lässt, dass ihr Heil liegt nicht in Maßnahmen, sondern in neuen Gesinnungen besteht.”
Wogegen ich mich daher beim Gendern verwahre, ist eine künstlich auferlegte Sprachregelung, die mich im Wortsinn versucht zu bevormunden. Neue Gesinnungen können meiner Ansicht nach nicht durch äußeren Druck, sondern nur durch innere Bewusstseinsprozesse erzeugt werden.
Was nützt es denn, die Gleichstellung der Geschlechter durch sprachliche Verrenkungen erzwingen zu wollen, wenn gleichzeitig das klassische Bild des Mannes als kraftstrotzendem Macher und das der Frau als verführerischem Model tausendfach medial dargestellt und verbreitet wird? Da gilt es sogar schon als emanzipatorische Errungenschaft, wenn im neu aufgelegten ‘Barbie’-Film die Protagonistin von fußschädigenden High-heels zu korkgedämpften Birkenstock-Sandalen wechselt.

 

Seit ich mich mit dem Mysterium der Mann-Frau-Beziehung intensiver beschäftige, also quasi seit meiner Geburt, sehe ich in der Auseinandersetzung des Weiblichen mit dem Männlichen einen der wesentlichen Aspekte für meine eigene persönliche Entwicklung. Beginnend mit der Nahrungsaufnahme durch die mütterliche Brust hat mich als werdender Mann das ewig Weibliche schon sehr früh hinan gezogen und seitdem nicht mehr losgelassen.
Auf der gesellschaftlichen Ebene bin ich der festen Überzeugung, dass mehr Weiblichkeit in allen Lebensbereichen uns allen gut täte. Nach vielen Jahrhunderten männlicher Dominanz mit den bekannten katastrophalen Auswirkungen hoffe ich inständig auf eine tatsächliche Zeitenwende in Form von mehr weiblichem Bewusstsein. Schließlich leben wir nach wie vor auf einem Planeten, den wir nach allgemeinem Sprachgebrauch als ‘Mutter Erde’ bezeichnen. Sie hätte es wahrlich verdient, mit größerer Achtsamkeit und Fürsorge behandelt zu werden.

Die Überwindung der scheinbaren Gegensätze bleibt daher oberstes Ziel einer solchen Zeitenwende. Durch die aktuelle, von mir so wahrgenommene Verwischung und Vermischung der geschlechtlichen Gegensätze laufe ich dagegen Gefahr, das eigentliche Potenzial für eine Weiterentwicklung zu verpassen. “Nur am Gegensatz entzündet sich das Feuer” hat C.G. Jung es einmal benannt. Er war es auch, der von Anima und Animus sprach, den geistigen und seelischen Anteilen des Menschen, die nicht zwangsläufig ans biologische Geschlecht gekoppelt sind, sondern in jedem Menschen angelegt sind. Unsere Aufgabe könnte also darin liegen, nicht vorschnell in eine neue Form der Geschlechtsbeliebigkeit oder gar -losigkeit überzugehen, sondern die Vereinigung der verschiedenen Anteile auf einer höheren Bewusstseinsebene zu vollziehen. Ansonsten könnte es uns passieren, dass wir uns auf eine unglückliche Abkürzung in Richtung menschlicher Aliens - Kurzform Haliens für Human Aliens - hin bewegen. In der Regel ist zumindest die Vorstellung von tatsächlichen Aliens eng mit der Idee der Geschlechtsneutralität oder gar der Geschlechtslosigkeit verbunden. So weit möchte ich es persönlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht kommen lassen. Dazu habe ich noch viel zu viel Freude an den scheinbaren Gegensätzlichkeiten, die sich im wahrsten Sinne gegenseitig befruchten können.

 

So kehrte ich nach diesen gedanklichen Ausflügen in die große Welt allmählich wieder zurück in die kleine Welt meines Gartens und meines Balkons. Und schlagartig schlug meine Stimmung wieder um, hin zum Friedlichen und Harmonischen. Für einen Moment dachte ich an die Aussage des Philosophen Ernst Jünger: “Ein Garten gibt größere Gewissheit, als jedes philosophische und politische System.”
Sicherheit zu finden in unsicheren Zeiten war wohl schon immer eine der größten Herausforderungen für den Menschen. Die Erkenntnis, dass wahre Sicherheit nur aus uns selbst heraus entstehen kann, ist nicht neu. Was dabei hilft, ist, den eigenen Standpunkt zu klären. Dies gelingt in den allermeisten Fällen durch das Wahrnehmen und das Abwägen unterschiedlicher Sichtweisen. Am Ende kann man nur hoffen, die  angemessenen Schlüsse für sich selbst daraus ziehen zu können.
Ich selbst schließe bei all diesen Erwägungen nach wie vor nicht aus, dass ich als älterer, weißer Mann einfach den Zug der Zeit verpasst habe und mich auf meinen eingefahrenen Bahnen in Richtung Abstellgleis bewege. Vielleicht bewegen wir uns ja alle gemeinsam in modernere Zeiten mit moderneren Ausdrucksformen. Andererseits habe ich beim Thema ‘moderne Zeiten’ das Bild aus dem gleichnamigen Film ‘Modern Times’ von und mit Charlie Chaplin vor Augen, in dem er als hilfloses menschliches Wesen ins große Räderwerk der modernen Maschinen gezogen wird. Davor möchte ich mich bewahren und ich werde mich weiterhin darin üben, mir meine eigenen Gedanken zu machen. Noch sind sie, zumindest in der überwiegenden Anzahl, frei. Glaube ich.