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Meinungsfreiheit und Meinungsmache


Man sagt, die Meinungsfreiheit  sei einer der größten Errungenschaften und wichtigsten Stützpfeiler der Demokratie. Warum eigentlich?

Wäre es nicht viel schöner, wenn immer alle einer Meinung wären? Würde uns nicht so viel mehr kostbare Lebenszeit zur Verfügung stehen, wenn wir uns nicht immer wieder mit Meinungen auseinandersetzen müssten, die der unsrigen widersprechen? Wie schön und harmonisch könnte das Leben doch sein, ohne diese lästigen und uns belästigenden Widersprüche!

Andererseits heißt es: ‚Wer die Wahrheit wissen will, muss den Menschen widersprechen’. Durch Auseinandersetzung mit anderen Sicht- und Denkweisen kann ich mir mein eigenes Weltbild neu zusammensetzen. Entwicklung könnte man es nennen, persönlich und gesellschaftlich. Natürlich nur, wenn man an dieser Weiterentwicklung interessiert ist. Ansonsten kann man es natürlich auch mit der Devise halten „Toleranz ist die Art von Geisteshaltung, die andere einnehmen sollten, damit sie meine Meinung übernehmen“.

Apropos natürlich: Die Natur macht es uns vor. Die erstaunliche und von außen betrachtet unübersichtliche und verwirrende Artenvielfalt auf dieser Erde dient vermutlich u.a. dem Zweck, das Überleben der jeweiligen Spezies zu ermöglichen. Rein rational betrachtet würde es doch beispielsweise genügen, wenn es der Übersichtlichkeit halber nur 2-3 verschiedene Vogelarten gäbe. Wozu diese atemberaubende Vielfalt der Vogelwelt mit ihren Hunderten von Arten, Sorten und Sonderformen? Alles Zufall und unnötige Verzettelung?

Einer der Gründe könnte darin liegen, dass es bei dieser Vielfalt wesentlich schwieriger ist, die Spezies ’Vogel’ aussterben zu lassen. Bei Krankheiten und anderen Unvorhersehbarkeiten kann schon mal die eine oder andere Art unter das Rad der evolutionären Entwicklung geraten und vom Erdboden verschluckt werden. Die Spezies Vogel bleibt jedoch davon ungeachtet als Ganzes erhalten. Nicht umsonst hatte Noah wohl den Auftrag erhalten, von jeder Spezies mindestens ein – möglichst zeugungsfähiges – Pärchen auf seine Arche einzuladen.

Wenn also nun diese Vielfalt der Arten einen tieferen Sinn hat, könnte dies auch für die Vielfalt der Meinungen gelten? Liegt der Schlüssel für die Weiterentwicklung menschlichen Lebens am Ende genau in dieser Vielfalt?

Auch wenn es manchmal schwer zu akzeptieren ist und im Einzelfall sogar richtig nerven kann – die Widerstandfähigkeit und Überlebenschance für eine Gesellschaft wird durch das Zulassen einer breit gefächerten Meinungsvielfalt gestärkt und verbessert.

Womit ich beim eigentlichen Punkt bzw. der entscheidenden Frage angekommen bin: In wie weit leben wir auch in pandemischen Zeiten noch in einer von Toleranz und Meinungsvielfalt geprägten Gesellschaft? Das Zulassen anderer Meinungen kann ich im privaten und persönlichen Bereich selbst steuern. Wie sieht es damit im öffentlichen Raum aus?

Derzeit beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Der Druck, der von der so genannten Mehrheitsmeinung beim Thema Corona und den damit verbundenen Maßnahmen ausgeübt wird, steigt seit geraumer Zeit gefühlt und wohl auch real stetig an. Auch wer sich nur für das Zulassen alternativer Meinungen, die die Notwendigkeit und das Ausmaß der Maßnahmen in Frage stellen, ausspricht, geht die Gefahr ein, vom Sturm der Entrüstung hinweggefegt zu werden. Ganz im Sinne von ‚Wer den Kopf aus der Masse hebt, geht die Gefahr ein, dass er ihn kürzer gemacht bekommt’. Als aktuelles Beispiel sei hier nur die Aktion #allesdichtmachen von 50 deutschen SchauspielerInnen erwähnt, die genau zu diesem Sturm der Entrüstung führte.

Interessant ist an dieser Stelle, dass die klassischen Meinungsmacher innerhalb einer Gesellschaft, die Medien, sich irgendwie auf eine gemeinsame Linie geeinigt zu haben scheinen. Seit Beginn der Pandemie warte ich auf eine gemeinsame Gesprächsrunde mit Vertretern der Maßnahme-Befürworter und deren Kritiker in den öffentlich-rechtlichen Medien. Stattdessen erzählen in unzähligen Sondersendungen und Talkshows immer dieselben Leute meistens das Gleiche. Wenn die Medien und der Journalismus im Allgemeinen sich tatsächlich noch als ’4. Gewalt’ im Staat – neben Legislative, Exekutive und Judikative – definieren sollten, dann wäre es m.E.’s wirklich an der Zeit, die existierende Meinungsvielfalt auch unter den viel zitierten ExpertInnen entsprechend darzustellen. Ansonsten könnte man die Aussage „Früher hat die Presse die Regierung kritisiert, heute kritisiert die Regierung die Presse“ möglicherweise unterstreichen.

Es ist eben wie bei allen gesellschaftlichen Themen: Vielfalt bedeutet Stärke und sichert langfristig die Weiterentwicklung einer Gesellschaft. Das Nichtzulassen bzw. Vernachlässigen oder gar Diffamieren abweichender Meinungen führt zu Gesellschaftsstrukturen, die mit dem allgemeinen Verständnis von Demokratie nur noch wenig zu tun haben. Als abschreckendes aktuelles Beispiel kann wohl derzeit China mit seinem System der Unterdrückung nicht nur der Meinungsfreiheit herangezogen werden. Corona besiegt, die Freiheit gleich mit. Wie heißt es: ‚Wer die Freiheit zugunsten der Sicherheit aufgibt, verliert am Ende beides“.

Nachdem ich grundsätzlich optimistisch veranlagt bin – wenn auch nicht bodenlos -, bin ich derzeit noch guter Hoffnung, dass ich auch weiterhin in einem Land leben kann, in dem abweichende Meinungen zugelassen werden. Vielleicht können sie sogar als das angesehen werden, was sie eigentlich sind: Eine Bereicherung und Aufforderung zur Weiterentwicklung.

Mit zunehmender Sorge beobachte ich jedoch derzeit die steigende Tendenz, anders lautende Sichtweisen und Meinungen eben nicht unvoreingenommen zuzulassen, sondern sie systematisch zu verunglimpfen. Kurt Tucholsky, ein sehr aufmerksamer Beobachter und Kommentator gesellschaftlicher Zustände seiner Zeit im Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen, formulierte es so:

„Wir wollen nicht so kleinlich sein. Wir alle – Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren und Redakteure und Musiker und Ärzte und Beamte und Frauen und Volksbeauftragte – wir alle haben Fehler und komische Seiten und kleine und große Schwächen. Und wir müssen nicht gleich aufbegehren, wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein. Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er mag wiederschlagen – aber er werde nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Es wehte bei uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen.“

In diesem Sinne ‚puffen’ Sie weiter, auf die Gefahr hin, dass die eigene Meinung manches Mal auch ungehört verpufft. So lange keine bleibenden Schäden dabei entstehen…

Wichtig scheint es mir in diesen Zeiten zu sein, sich weder von der ‚gängigen Meinung’ noch von einer Anti-Haltung leiten zu lassen. Im Zweifelsfall nicht gegen sondern  für etwas, wie eben die Meinungsfreiheit. Mahatma Gandhi formulierte es so:

„Die Welt, lässt sich nicht verbessern, wenn alle blind der Mehrheit folgen. Es braucht Menschen, die den Mut haben, scheinbar Unumstößliches in Frage zu stellen, die sich trauen, Autoritäten anzuzweifeln und ihren eigenen Verstand zu gebrauchen.“

Genau.