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Ein Gespenst geht um in Europa (und anderswo)


Seit einiger Zeit beschleicht mich in Gesprächen und Diskussionen oder beim Betrachten der Berichterstattung in den Medien immer wieder ein beunruhigendes Gefühl: Deutschland, ja ganz Europa scheint sich seit drei Jahren thematisch im Kreise zu drehen. Was vorher die Banken-, dann die Griechenlandkrise war, ist spätestens seit 2015 die Flüchtlingskrise. Manchen persönlichen und öffentlichen Aussagen  zufolge wird  Europa - und dabei speziell Deutschland - seit dieser Zeit von einer Welle der Überfremdung überflutet. Ausgelöst durch die Flüchtlingspolitik vor allem der deutschen Bundesregierung, angeführt wiederum von Angela Merkel.
Die Heimat - was immer auch unter diesem Begriff verstanden wird - scheint in ihren Grundfesten erschüttert und bedroht zu sein. Dieses Phänomen ist kein rein deutsches oder europäisches Phänomen, auch jenseits des Atlantiks werden wieder Mauern zwischen den Menschen aufgebaut. Aber es scheint sich hierzulande in beunruhigender Art und Weise zuzuspitzen.
Tief sitzende Ängste scheinen derzeit in vielen Menschen freigesetzt zu werden, die mitunter zu fanatisch und panikartig anmutenden Reaktionen führen. Selbst vorher noch durchaus zurückhaltende und besonnene Menschen wirken so, als würden sie in einen Sog der emotionalen Überhitzung und Feindseligkeit hineingezogen werden. Das Fremde in Form von ausländischen Mitbürgern wird zu einem Dämon hochstilisiert, dessen hauptsächliches Anliegen darin zu bestehen scheint, den mühsam erarbeiteten Wohlstand und das geregelte soziale Miteinander hierzulande zu unterwandern. Horden von jungen, analphabetischen und gewaltbereiten Menschen mit Migrationshintergrund ziehen scheinbar marodierend durch deutsche Städte und Gemeinden, immer auf der Suche nach neuen Opfern, speziell unter der weiblichen Bevölkerung.
So klingt es jedenfalls, wenn man den Kommentaren in mancher Medien oder Meinungsäußerungen einiger Mitbürger zuhört.
Da scheinen selbst Zahlen-Daten-Fakten, die dabei helfen könnten, das tatsächliche Ausmaß dieser so genannten Flüchtlingswelle zu relativieren, keine wirkliche Rolle mehr zu spielen. Der Sündenbock ist gefunden, entweder in Form der zuwandernden Menschen selbst oder in Form der verantwortlichen Politiker/innen.
Die Stimmung wirkt aus meiner Sicht immer aufgeheizter bzw. beruhigt sich nicht wirklich, und das trotz stetig zurückgehender Einwanderungszahlen. Die Bedrohung durch Überfremdung scheint zumindest gefühlt nicht weniger geworden zu sein.
Ich möchte das Problem an dieser Stelle gar nicht klein reden bzw. gar abstreiten. Natürlich gibt es Probleme, wenn Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen mit unterschiedlichen Lebenseinstellungen und -gewohnheiten sozusagen ‘aufeinanderprallen‘. Natürlich gilt es, grenzüberschreitende (!) Verhaltensweisen zu verhindern, auch mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Ab- und Ausgrenzung. Dies gilt jedoch grundsätzlich für jeden Fall, unabhängig davon, ob der Mensch, der dieses grenzüberschreitende Verhalten ausübt, weißer, gelber, brauner oder grüner (!) Hautfarbe ist. Derzeit scheint sich jedoch nicht nur europa- sondern weltweit eine Stimmung auszubreiten, die das bzw. den Fremde/n zu einem Sündenbock für alle möglichen Mißstände im eigenen Land verantwortlich macht.
Nun ist ja bekannt, dass es im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder ein beliebtes Mittel war, Sündenböcke an den Pranger zu stellen und sie als Schuldige für alle möglichen Fehlentwicklungen zu bestrafen. Von der Hexen- über die Judenverfolgung bis zur Jagd auf so genannte Konterrevolutionäre reicht das grauenerregende Spektrum. Von der jeweils herrschenden Klasse wurde ein passendes Schreckgespenst geschaffen und dem Volk als Ursache für allgemeine, meist selbst verursachte Mißstände benutzt. Beschäftigt mit dem Einprügeln auf diesen Sündenbock wurden in der Öffentlichkeit andere Zusammenhänge bzw. Ursachen für die vorhandenen Zustände weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Sündenböcke waren also schon immer beliebte Haustiere der Mächtigen, um die Ohnmächtigen vom eigentlichen Geschehen abzulenken. Das erschreckende an der heutigen Situation, ist das Ausmaß dieser ab- und ausgrenzenden Tendenzen. Weltweit scheint die Bauindustrie weniger mit Brücken- als mit Mauerbau beschäftigt zu sein.
Dabei ist es doch gerade in einer globalisierten Welt, die durch mediale, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit immer näher zusammenrückt, mehr als widersprüchlich, dass es zu einer solchen Zunahme der Abschottung und Isolierung kommt.
Aus psychologischer kann man diesen Widerspruch auflösen: In Situationen, in denen der Einzelne glaubt, einem immer komplexeren und damit für ihn unüberschaubaren System mehr oder weniger ausgeliefert zu sein, fühlt er sich hilflos und ohnmächtig. Wer sich im tiefsten Inneren unsicher fühlt, sucht die scheinbare Sicherheit meist im Äußeren. Dass aus dieser Sehnsucht der Ruf nach Sicherheit und Ordnung, nach Wiederherstellung der kleinen Welt entsteht, ist somit erklärbar.
Da wären wir wieder bei den tief sitzenden Ängsten des Menschen vor Kontrollverlust und ’feindlicher Übernahme’. An sich ist es also nicht wirklich verwunderlich, dass ein Teil im Menschen gerade in einer immer unüberschaubareren und sich verdichtenden Welt nach Abgrenzung und Kontrollierbarkeit ruft.
Was mich heutzutage allerdings trotz all dieser Erklärungsversuche beunruhigt, ist die sich - so von mir wahrgenommene - Ausbreitung einer Stimmung von Hass, Misstrauen und offener Feindseligkeit. Der damit einhergehende verstärkt auflodernde Nationalismus und die Tendenz, sich abzuschotten und neue Mauern zu errichten, sowie die Vehemenz, in der die Debatte geführt wird, erschreckt mich zusehends.
Als einer der Gründe für diese explosive Stimmungslage kann sicherlich die Verbreitung ungefilterter und extremer Standpunkte und Meinungsäußerungen in den so genannten ‘sozialen’ Medien angesehen werden. In der Anonymität des Netzes lässt es sich vortrefflich hetzen und falsch informieren, man kann ja schließlich von niemandem persönlich zur Rechenschaft gezogen werden und muss auch niemandem persönlich ins Auge sehen, während man den eigenen Standpunkt in provozierender Weise vertritt. Die Intensität der Debatte hat sich dabei zu einer Art Glaubenskrieg bzw. -schlacht entwickelt. Auch was die Verfügbarkeit von Informationen anbelangt, die ja eigentlich für eine Versachlichung der Debatte dienen könnten, gilt wohl der allgemeine Grundsatz für die Benutzung des Worldwidewebs: Wer die für ihn passenden und bestätigenden Informationen sucht, wird sie immer finden. Wilhelm Busch hat es etwas poetischer formuliert: ”Wer mit des Argwohn Brille schaut, findet Raupen selbst im Sauerkraut”.
Das sich verschärfende Klima des Gegen- statt Miteinanders, der teilweise hasserfüllte Ton, in dem Auseinandersetzungen geführt werden, das ist es eigentlich, was bei mir das besagte Gefühl des Unwohlseins hervorruft.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun daraus ziehen?
Als allererstes wohl: Die eigenen emotionalen Reaktionen beobachten. Ich selbst möchte mich nicht emotional aufhetzen oder gar aufsaugen lassen. Der Blick von außen auf die jeweilige Situation hat mich schon oft vor so manchem emotionalen ’Absturz’ bzw. Ausbruch bewahrt.
Ich informiere mich zwar über die Hintergründe der aktuellen Situation, glaube jedoch grundsätzlich erst einmal meinen eigenen Erfahrungen. Wer kann schließlich in dem unüberschaubaren Dickicht so genannter Zahlen-Daten-Fakten behaupten, den letztendlichen Über- bzw. Durchblick zu haben? Schon Schopenhauer formulierte: “Die eigene Erfahrung hat den Vorteil völliger Gewissheit”. Für mich ist es wichtiger, ob und wie weit ich selbst Kontakt und Erfahrungen mit Menschen ’mit Migrationshintergrund’ habe und auf welche persönlichen Erfahrungswerte ich in meiner direkten Umgebung zurückgreifen kann. Meist relativieren sich so manche Vorurteile und Ängste im direkten zwischenmenschlichen Kontakt.
Außerdem ist für mich offensichtlich, dass die Tendenz zur Globalisierung sich weder rückgängig machen noch aufhalten lässt. Wir leben schon seit langem in einer multikulturellen, multilateralen, multisonstwas Welt. Europa und auch Deutschland sind schließlich seit Jahrhunderten ein buntes Völkergemisch, geprägt von einer Vielzahl von Aus- und Einwanderungsbewegungen. Ganz zu schweigen von Ländern, die von Flüchtlingen gegründet bzw. ‘feindlich übernommen’ wurden! Was nützt es also, immer höhere Zäune und Mauern zu errichten, wenn jetzt schon klar ist, dass die weitere Globalisierung unaufhaltsam voranschreitet? Noch dazu, wo wir selbst fast überall in der Welt als Fremde angesehen werden. Und je mehr wir von dieser für uns so fremden Welt persönlich kennenlernen, desto mehr können wir sie vielleicht als Bereicherung statt als Bedrohung erleben. Schon Karl Valentin hat es in seiner unnachahmlichen Art auf den Punkt gebracht: “Fremd ist der Fremde nur in der Fremde”.
Ich selbst definiere den Begriff Heimat gemäßem Satz “Heimat ist da, wo meine Seele wohnt” (was für einen Psychologen vielleicht nicht wirklich überraschend ist). Der Begriff ‘Heimat’ bezeichnet nämlich
ursprünglich den Platz, an dem man wohnt bzw. an dem man sich schlafen legt. In diesem Sinne ist für mich persönlich der Heimatbegriff nicht auf einen Ort beschränkt und unveränderbar. Das ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass ich nicht immer am gleichen Ort aufgewachsen bin oder gelebt habe. So gesehen nehme ich mich selbst wohl eher als ’Weltbürger’ mit deutschen Wurzeln wahr.
Ich habe dennoch viel Wertschätzung und Respekt für Menschen, die an dem Ort, den sie als ihre Heimat bezeichnen, sehr viel dafür tun, um diese lebendig zu halten. Der Angst jedoch, durch eindringende
Fremdheit sozusagen den heimatlichen Boden unter den Füssen zu verlieren, ist aus meiner Sicht am ehesten zu begegnen, indem diese fremden Einflüsse die Gelegenheit bekommen, sich in die  - dann gemeinsame - ‘Heimat’ im Sinne von Wohn- und. Lebensort einzubringen.
Die Geschichte der Menschheit besteht aus Wanderungsbewegungen. Nicht immer war es von Nachteil, wenn sich Völker, statt sich zu bekriegen, auf friedliche Art und Weise vermischten. Manchmal wurden dadurch sogar kulturelle Weiterentwicklungen ermöglicht. Erkannt hat man dies allerdings meist erst Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte später.     
Wir leben in einer sich stetig verändernden Welt, gleich, ob es uns nun passt oder nicht. “Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest”. Dieser Satz Mahatma Gandhis bleibt mir als letzte Konsequenz, um mein mich beunruhigendes Gefühl irgendwie konstruktiv zu nutzen: Als Treibstoff für meine eigene, von Miteinander und  gegenseitiger Wertschätzung begleitete Haltung meinen Mitmenschen gegenüber, unabhängig von Hautfarbe und kulturellem Hintergrund. Gerade wenn es um einen herum scheinbar schwierig wird, ist dies ja meist eine gute Gelegenheit, die eigene Haltung und den eigenen Standpunkt zu überprüfen und dementsprechend zu handeln und sich zu verhalten. Der Dalai Lama hat einmal auf die Frage, ob er Feinde habe, geantwortet: “Ich habe keine Feinde, sondern viele Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe”.