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Vom Haben zum Sein


Einer der prägnantesten und nach wie vor hochaktuellen Analysen unserer gegenwärtigen individuellen und gesellschaftlichen Gesamtsituation stammt m.E.’s von einem der führenden Vertreter der Psychologie der Moderne, Erich Fromm. In seinem Klassiker ’Haben oder Sein’ hält er auf brillante Art und Weise der modernen Gesellschaft einen Spiegel vor. Seine ebenso treffsichere wie erschreckende Analyse bietet bei aller scheinbaren Katastrophenstimmung eindeutige und Hoffnung machende Hinweise, welche Richtung es für den Einzelnen und die Gesellschaft einzuschlagen gilt:

 

“Da wir in einer Gesellschaft leben, die auf den drei Säulen Privateigentum. Profit und Macht ruht, ist unser Urteil äußerst voreingenommen. Erwerben, Besitzen und Gewinnmachen sind die geheiligten und unveräußerlichen Rechte des Individuums in der Industriegesellschaft.

Da wir in einer Gesellschaft leben, die sich vollständig dem Besitz- und Profitstreben verschrieben hat, sehen wir selten Beispiele für die Existenzweise des Seins und die meisten Menschen sehen die auf das Haben gerichtete Existenz als die natürliche, ja die einzig denkbare Art zu leben an.

Entscheiden für jede Gesellschaft ist die Art von Einheitserlebnis und von Solidarität, die sie fördert bzw. unter den gegebenen Bedingungen ihrer sozio-ökonomischen Struktur fördern kann.

Diese Überlegungen lassen den Schluss zu, dass beide Tendenzen in Menschen vorhanden sind: die eine, zu haben, zu besitzen, eine Kraft, die letztlich ihre Stärke dem biologischen Wunsch nach Überleben verdankt; die andere, zu sein, die Bereitschaft zu teilen, zu geben und zu opfern, die ihre Stärke den spezifischen Bedingungen der menschlichen Existenz verdankt, speziell in dem eingeborenen Bedürfnis, durch Einssein mit anderen die eigene Isolierung zu überwinden. Aus der Existenz dieser beiden gegensätzlichen Anlagen in jedem Menschen ergibt sich, dass die Gesellschaftsstruktur und deren Werte und Normen darüber entscheiden, welche von beiden Möglichkeiten dominant wird. Gesellschaften, die das Besitzstreben und damit die Existenzweise des Habens begünstigen, wurzeln in dem einen menschlichen Potential; Gesellschaften, die das Sein und Teilen fördern, wurzeln in dem anderen. Wir müssen uns entscheiden, welches dieser beiden Potentiale wir kultivieren wollen, uns dabei aber bewusst sein, dass unsere Entscheidung weitgehend von der sozio-ökonomischen Struktur der jeweiligen Gesellschaft abhängt, die uns die eine oder die andere Lösung bevorzugen lässt.

Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im „Herzen“ des Menschen ist jedoch nur in dem Maße möglich, in denen drastische ökonomische und soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben, sich zu wandeln und den Mut und die Vorstellungskraft, die er braucht, um diese Veränderung zu erreichen.

Für unsere jetzige Situation ist es von eminenter Bedeutung, dass der Mensch auch ohne Ketten ein Sklave sein kann. Die äußeren Ketten werden einfach nach innen verlegt. Die Wünsche und Gedanken, die ihm von der Gesellschaft suggeriert werden, fesseln ihn stärker als äußere Ketten. Die äußeren Ketten nimmt der Mensch wenigstens wahr, der inneren Fesseln aber wird er sich viel weniger bewusst, so dass er mit der Illusion, frei zu sein, gefangen lebt. Er kann versuchen, die äu0eren Ketten abzuwerfen, aber wie kann er sich von den Ketten befreien, denen er nicht einmal gewahr ist? Jeder Versuch, die möglicherweise fatale Krise des industrialisierten Teils der Welt, ja der ganzen menschlichen Rasse zu überwinden, muss dabei ansetzen, die Eigenart nicht nur der äu0eren, sondern gerade auch der inneren Ketten verstehen zu lernen. Dieses Verstehen muss ausgehen von der Befreiung des Menschen im klassisch-humanistischen wie auch im politischen und sozialen Sinn.“

 

                                                                      Erich Fromm, Haben oder Sein und Vom Haben zum Sein

 

Natürlich geht es nicht um ein ent- oder weder, Haben oder Sein. Niemand soll seiner materiellen Grundlagen beraubt werden um des lieben Seelenfriedens willen. Es geht vielmehr um eine klare Prioritätensetzung im eigenen und darüber hinaus im gesellschaftlichen Leben. Will ich mitmachen bei dem vom Konkurrenzgedanken geprägten Rattenrennen des modernen gesellschaftlichen Lebens? Will ich mein Leben weiterhin dem nur scheinbar und vorübergehend glücklich machenden Konsum opfern? Fromm spricht vom Marketing-Charakter des modernen Menschen, dem homo consumentis als Nachfolger des wissenden Menschen, dem homo sapiens. Am Wissen um die nötigen Konsequenzen mangelt es tatsächlich - gerade in der heutigen Zeit - schon lange nicht mehr. Die Umsetzung des vorhandenen Wissens in Form von angewandtem Wissen – auch Weisheit genannt – steht noch immer aus. Dennoch hat – zumindest in den postindustriellen Gesellschaften – jeder Mensch potentiell die Möglichkeit, sich unabhängig von der Gesamtsituation zu entscheiden. Zu entscheiden, ob er mehr vom und im Leben haben bzw. besitzen will, oder sein Da-Sein von der Freude am Leben an sich durchdrungen ist. Nach meiner persönlichen Ansicht dient der so genannte Ernst des Lebens eigentlich nur dazu, den Spaß am Leben zu ermöglichen.

Die Welt um einen herum verändern zu wollen, ist sicherlich eine ehrenvolle Aufgabe und ein hoher Anspruch. Sie beginnt dennoch immer wieder vor der eigenen Haustür, so wie es treffend in dem chinesischen Sprichwort zum Ausdruck kommt.

Bevor du die Welt verändern willst, gehe drei Mal durch dein eigenes Haus!