Beratung


Eine Utopie der Freiheit

Ein zukünftiger Dialog


Langsam ließ er den feinen Sand durch seine Finger rieseln. Als er aufblickte, sah er ihren in die Ferne schweifenden Blick. Er drehte seinen Kopf in die gleiche Richtung wie sie. Gemeinsam schauten sie jetzt auf das smaragdgrün schimmernde Meer und den dahinter liegenden Horizont hinaus. Eingerahmt von einem azurblauen Himmel über ihnen und dem gelblich-weißen Sandstrand unter ihnen ergab sich die klassische Szene für eine, von tiefer innerer Ruhe und Entspanntheit geprägte Atmosphäre. Beider Blick schien über den Horizont hinauszureichen.
“Wie haben wir eigentlich die Zeit vor der Anhebung gelebt bzw. überlebt?” fragte er versonnen, so, als stelle er sich diese Frage eher selbst.
“Tja, es wirkt heute schon so weit weg, dass man es sich tatsächlich kaum noch richtig vorstellen kann” kommentierte sie seine Frage.
“Fast vermisse ich ein es wenig: Die ewige Suche nach dem nächsten Problem oder Konflikt. Ein Leben ohne Probleme oder Konflikte kann nämlich potentiell auch ganz schön langweilig sein.”
Mit einem etwas nachsichtigen Lächeln sah sie  ihn an.” Du willst mir jetzt aber nicht wirklich sagen, dass du dich gerade langweilst, oder?”
“Nimm’s halt nicht gleich persönlich, Liebste. Auch über solche emotionalen Reaktionen sollten wir schließlich mittlerweile mehr oder weniger erhaben sein.”
Mit einem Augenzwinkern sah er sie an. “Aber so ein Restzustand Unzufriedenheit schlummert wohl noch in vielen Menschen. Zumindest bei denen, die einen Großteil ihrer Lebenszeit vor der Anhebung verbracht haben. Gestern erst wurde jemand dermaßen ungeduldig beim Bezahlen an der Supermarktkasse, dass ich mich schlagartig an frühere Zeiten erinnert fühlte. Wenn man natürlich bedenkt, wie viele handfeste und teilweise gewalttätige Auseinandersetzungen es vor der Anhebung allein an Supermarktkassen gab, war dieser kleine Ausbruch an Ungeduld ja nur ein müder Abklatsch. Aber immerhin zeigt es, dass man nicht vor Rückfällen in scheinbar längst überwundene Verhaltensweisen gefeit ist.”
“Ist ja auch nicht allzu lange her, dass diese Verhaltensweisen  als normal angesehen wurden” erwiderte sie.
“Ja, ja, wir haben uns ganz schön weiterentwickelt in den drei Jahren seit der Anhebung:”
“Und mit uns Gott sei Dank die ganze Menschheit.”
“Ich will es mir gar nicht vorstellen, wo das Ganze hingeführt hätte, wenn nicht von höherer Stelle eingegriffen worden wäre.”
“Es ist vorbei, Liebster. Genieße den Augenblick, freue dich auf die Zukunft. Wie heißt es so schön: Man kann das Leben zwar rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben.”
“Ja, ja, du weise Frau, du.”
Eine Weile blickten sie schweigend übers Meer zum Horizont hinaus.
“Und was machen wir jetzt mit der neu gewonnenen Freiheit? Was fangen wir an mit der fantastischen Harmonie und dem dauerhaften Frieden auf Erden? Genießen und Besinnen, schön und gut. Gibt es noch weitere Aufgaben im Leben? Jetzt, wo wir schon fast alles erreicht haben, von dem wir unser ganzes Leben lang geträumt hatten?”
“Männer sind noch immer eigenartige Wesen. Kaum haben sie ein Ziel erreicht, begeben sie sich gleich wieder auf die Suche nach neuen Zielen. Wunschlos glücklich ist ein Zustand, den es für deine Spezies nur in der Fantasie zu geben scheint.”
 “Mit anderen Worten: Du als Frau bist wunschlos glücklich?”
“Ja, mein Liebster. Im Augenblick schon und dieser Augenblick hält schon sehr lange an.”
“Wir sind also wieder im Paradies angekommen, meine Eva?”
“Könnte man so sehen. Wenn man nicht Adam hieße.” Sie lächelte ihn mit ihrem wunderbaren ‘Ich-liebe-dich-auch-und-gerade-wenn-du-so-bist-Lächeln’ an.
“Denk’ dran: du oder ihr Evas habt den Apfel damals ins Rollen gebracht” erwiderte er lächelnd.
“Na ja, es konnte ja damals keiner ahnen, dass das bisschen Bewusstseinserweiterung bei euch Männern zu einem derart übersteigerten Selbstbewusstsein führen würde. Schließlich waren es vor allem die Männer. die diese Welt an den Rande des Abgrunds gebracht haben.”
“Stimmt schon. Tausende von Jahren männliche Dominanz hat weder Mutter Erde noch dem Menschen selbst gut getan.”
“Aber jetzt stehen wir am Beginn einer neuen Epoche. Schließlich macht der Mensch ja angeblich deshalb Fehler, damit er sie beim nächsten Mal besser machen kann. Die Fehler.” Wieder lächelte sie ihn mit ihrem leicht nachsichtigen, aber einfach unwiderstehlichen ’Hab-dich-lieb-Blick’ an. “Und genau deshalb sollten wir uns jetzt weniger in der Vergangenheit aufhalten, auch wenn es nur in Gedanken ist. Die Zukunft wird von uns im Hier und Jetzt gestaltet.”
“Du bist so klug, meine liebste Eva, dass ich es als Adam manchmal kaum auszuhalten vermag.” Nun war es an ihm, sie mit einem mindestens ebenbürtigen ’Hab-dich-auch-lieb-Blick’ anzulächeln. “Apropos: Was meinst du, ist eigentlich der Unterschied zwischen dem - wohl eher fiktiven und sprichwörtlichen - Paradies der Bibelgeschichte und den heutigen realen paradiesischen Zuständen?”
Für einen bzw. mehrere Augenblicke lang schaute sie sinnierend in die allmählich am Horizont untergehende Sonne. Der Himmel färbte sich zartrosa, das zuvor smaragdgrüne Meer veränderte seine Farbe in ein tiefes Blau. Nach mehreren Minuten des intensiven Schweigens hob sie schließlich an:
“Bewusstheit, gekoppelt mit Erfahrung. Das ist der große Unterschied. In der überlieferten Bibelgeschichte heißt es, der Stein bzw. Apfel des Anstoßes sei in dem Moment ins Rollen gebracht worden, als sich Adam und Eva ihrer Nacktheit bewusst  wurden. Damit fing alles an. Die Fähigkeit, sich selbst anzuschauen und darüber zu reflektieren, war offensichtlich der Beginn einer bis vor der Anhebung andauernden Krise. Sie konnten damals scheinbar nichts anderes mit der neuen Erkenntnis anfangen, als sich immer mehr ins eigene Ego hineinzusteigern. Die neu gewonnene Freiheit im Geiste schlug postwendend ins Gegenteil um. Sie verzettelten sich in gegenseitigen Vorhaltungen, die sie sich nun dank der neu erworbenen Fähigkeit gegenseitig machen konnten. ‘Findest du nicht, dass du etwas üppig um die Hüften herum bist, Eva?’ und ‘Wenn dein Hirn nur annähernd so gut entwickelt wäre, wie dein hervorragendes Körperteil, hätten wir wesentlich weniger Probleme in unserem Garten Eden, Adam’. So oder so ähnlich hat sich der neue Erkenntniszuwachs wohl damals ausgewirkt. Und in den Jahren danach wurde es offensichtlich nicht wirklich besser. Wo zuvor Friede und Harmonie in nahezu unschuldiger Unwissenheit herrschten, wurde durch die neue Fähigkeit der Selbsterkenntnis immer mehr Unfriede und Zwietracht untereinander gesät. Unser Vorteil heutzutage ist es daher, dass wir unser Bewusstsein über uns selbst und die Welt, in der wir leben, so stark erweitert haben, dass wir den Egozentrismus der letzten Epoche überwunden haben. Gekoppelt mit der, in der Menschheitsgeschichte  vielfältig und eindeutig belegten Erfahrung, dass dieser Egozentrismus über kurz oder lang zur Selbstzerstörung führt, haben wir es heute geschafft: Es ist und gelungen, durch die entsprechende Bewusstseinserweiterung die vorhandenen Gräben zuzuschütten und unser faktisches Getrenntsein zu einer neuen Verbundenheit zu führen.”
“Wow. Echt beeindruckend, das. Wo du’s nur immer wieder hernimmst” war sein erster Kommentar.
Sein zweiter Gedanke war die Frage, wie dieser Bewusstseinswandel eigentlich vonstatten gegangen war. Und damit tauchten sie gemeinsam ein in die lange und wechselvolle Geschichte der Menschheit, ihre eigene Beschränktheit, um nicht zu sagen Dummheit, zu überwinden.

 

Eskalation
Angefangen hatte es eigentlich damit, dass die Situation weltweit eskalierte. In den großen,. bis dato die Weltordnung (wenn man in diesem Falle überhaupt von
‘Ordnung’ sprechen konnte) dominierenden Industrienationen, zeigte sich immer mehr die Tendenz zu offensichtlichem Machtmissbrauch. Jahrzehntelang gültige Vereinbarungen sowohl auf wirtschaftlicher wie militärischer Ebene wurden entweder ausgehebelt oder gleich gekündigt. Das Wort und die Unterschrift, die in manchen Fällen in jahrelanger mühsamer diplomatischer Kleinarbeit erarbeitet worden waren, wurden jetzt mit einem Federstrich ungültig und außer Kraft gesetzt. Es setzte sich, nach Jahrzehnten der halbwegs friedlichen Koexistenz, wieder das Recht des Stärkeren durch. Die Maxime lautete, wie in längst vergangen geglaubten Zeiten: Jeder für sich. Oder: Wer nicht unser Freund ist, kann nur unser Feind sein. Man fühlte sich um Jahrzehnte zurückversetzt in die Phasen von heißen und kalten Kriegen.
Die - fast ausschließlich männlichen - Machthaber strotzen nur so vor Egozentriertheit und narzisstischer Selbstverliebtheit.
Parallel dazu wurde auch in den großen Industrienationen der Spagat zwischen Arm und Reich immer größer, ganz zu schweigen von den sowieso schon unhaltbaren Zuständen in den Entwicklungsländern. Dort wurde es immer offensichtlicher, dass diese teilweise katastrophalen Zustände bis hin zu immer wieder aufflackernden kriegerischen Auseinandersetzungen als Stellvertreterkonflikte missbraucht wurden, um die Einflussbereiche der Industrienationen abzusichern bzw. auszudehnen. Armut und Hoffnungslosigkeit breitete sich allmählich wie eine Krake rund um den Erdball aus, während eine elitäre Schicht von Superreichen ihren ohnehin schon überdimensionalen Reichtum exponentiell vermehrte.
Alles in allem ein wahrhaft zum Himmel schreiendes Unrecht, das bei einem Teil der ‘Normalbevölkerung’ zwar Zorn und Wut auslöste, gleichzeitig aber auch das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht hinterließ. Die Stimmung wurde allmählich explosiver, es gab immer mehr teils gewalttätigen Demonstrationen, die zeitweise zu wahren Straßenschlachten ausarteten.
Gleichzeitig nahm die Kontrolle der Bevölkerung durch nahezu perfekt ausgebaute Überwachungssysteme rasant zu. Durch das unaufhaltsame Voranschreiten der Digitalisierung und den damit verbundenen technischen Möglichkeiten konnte sich kein Bürger mehr sicher sein, unbeobachtet und unregistriert zu bleiben. Die dadurch entstandene permanente Verunsicherung in weiten Teilen der Bevölkerung sorgte somit für weiteren Zündstoff in einer sowieso schon aufgeladenen Stimmung.
Das Wohl des Planeten, der ‘Muter Erde’ war zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon arg ramponiert. Abholzung der letzten Regenwälder als der ‘grünen Lunge’ des Planeten, extremer Raubbau an allen zur Verfügung stehenden Rohstoffen als Treibstoff für sinnlose Wirtschaftsinteressen, eine gefährliche Veränderung des Weltklimas mit einer überproportionalen Häufung von so genannten Naturkatastrophen - die Situation sah, realistisch betrachtet, hoffnungslos aus. Die Ängste der Menschen vor einer immer ungewisser werdenden Zukunft nahmen zu.  
 
Jugendbewegungen
Nachdem es Erwachsenen offensichtlich nicht gelungen war, aus dieser Welt einen besseren Ort zu machen, breitete sich am Anfang des 21. Jahrhunderts unter den Jugendlichen dieser Welt eine immer stärker werdende Protestbewegung aus. Wie in den 60er und 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts machte eine ganze Generation ihrem Unmut über die bestehenden Zustände Luft. Anders jedoch, als die Protestbewegung der Vorgängergeneration wurde dieses Mal nicht in erster Linie gegen etwas protestiert, sondern für bessere Alternativen. Es gab eine Bewegung, die von einem 17-jährigen initiiert wurde, 1 Million Bäume weltweit zu pflanzen, um ein ökologisches Gegengewicht zur Praxis der gnadenlosen Abholzung zu schaffen. In Europa formierte sich eine Bewegung, die für ein grenzenloses und unbürokratisches Europa demonstrierte. Unter jugendlichen Schülern etablierte sich eine Protestbewegung, die durch eine 15-jährige Schülerin ausgelöst worden war und die lieber an einem Tag in der Woche die Schule schwänzte und stattdessen auf der Strasse gegen den voranschreitenden Klimawandel protestierte.
All diese von Jugendlichen organisierten Initiativen zusammen genommen lösten auch bei vielen Erwachsenen nach und nach Sympathie und Solidarität aus.

“Weißt du noch, wie wir als ‘alt gediente’ Protestler und Demonstrierer auf einmal wieder mitgezogen wurden von diesen Jugendbewegungen? Wie wir nach all den Jahren des frustrierten Rückzugs ins ’Private’ wieder hinter dem Ofen vorgelockt wurden? Nicht mehr getragen vom lodernden Feuer des jugendlichen Überschwangs, aber von einer inneren Passion gepackt, die den schon fast verloren gegangenen Glauben an eine bessere Welt wieder zum Leben erweckte?” Mit einem verschmitzten Lächeln sah er sie an.
 “Salbungsvolle Worte, mein Liebster. Das war ja schon immer deine Leidenschaft.” Sie lächelte süffisant zurück. “Aber es stimmt schon. Ohne diese Inspiration, die damals von den Jugendlichen ausging, weiß ich nicht, wie es mit uns weitergegangen wäre. Wahrscheinlich würden wir heute noch jeden Abend dem Extrem-Couching und Mattscheiben-Schauen frönen. Nicht auszudenken, das.”
“Na ja, nicht alles war schlecht. Manchmal gab’ s ja wirklich interessante Dokus und Filme im Programm” sagte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
“Du sehnst dich wohl ein wenig nach der ‘guten, alten Zeit’, wie? Nach der Ruhe und Beschaulichkeit, um nicht zu sagen Ereignislosigkeit vergangener Tage? Nach der Bequemlichkeit, sich nur noch über das eigene Wohlergehen Gedanken machen zu müssen? Keine vielfältigen Aufgaben für die Gemeinschaft erfüllen zu müssen? Keine stundenlangen Diskussionen in irgendwelchen Ratssitzungen über sich ergehen lassen zu müssen?  Eigentlich war das Leben vor der Anhebung ja doch etwas entspannter, oder?”
“Ja, entspannt bis zum geistigen und körperlichen Abschlaffen, würde ich ’mal sagen.” Er schaute gedankenverloren aufs Meer hinaus. “Mein Güte, weißt du noch, wie wir uns an manchen Wochenende verzweifelt darum bemüht haben, etwas Unterhaltsames als Freizeitgestaltung ausfindig zu machen? Kino, Konzert, Kneipe - egal was, Hauptsache man war für eine begrenzte Zeit beschäftigt und abgelenkt.”
“Wobei diese Ablenkung ja auch irgendwie nötig war. Wenn man zur damaligen Zeit  als nur halbwegs mit einem Bewusstsein ausgestatteter Mensch den Zustand der Welt betrachtete, musste man sich ja quasi bis zu einem gewissen Maß auf andere Gedanken bringen. War halt manchmal wie eine Art vorübergehende Betäubung dieses latent vorhandenen Gefühls des Unwohlseins und der Unzufriedenheit über die Gesamtsituation. Immer noch besser, als sich wie viele andere mit allen möglichen Hilfsmitteln wegzudröhnen.”
“Stimmt” erwiderte er. “Am schlimmsten waren die so genannten legalen Drogen wie Alkohol, Sex und Internet. So viele Junkies, die steif und fest behaupteten, sie hätten gar kein Problem. Schließlich sei alles legal und sie hätten die Situation voll im Griff. Betonung dabei auf ’voll’. Voll von Scheinwelten, die sich vor allem in ihren Köpfen abspielte.”
“Das war ja gerade das Perfide an der Sache” spann sie den Faden weiter. “Die Menschen wurden auf hinterhältigste Art und Weise davon überzeugt, dass sie trotz aller offensichtlicher Anzeichen von Fremdbestimmung und Kontrolle immer noch Herr oder Frau der Lage seien. Selbstbestimmt in der Lebensführung, selbstbestimmt in der Arbeitswelt - überall wurde einem ja suggeriert, dass man jederzeit sich frei und selbstbestimmt entscheiden könne. ‘Zeitalter der individuellen Freiheit’ haben sie es genannt. Dabei war es doch gerade im Arbeitsleben so offensichtlich, dass nur ein winziger Bruchteil der Menschen einer Arbeit nachgehen konnte, die ihrem eigenen, freien Willen und ihren tatsächlichen Fähigkeiten entsprach. Millionen und Abermillionen fristeten ihr Dasein als ‘Arbeitskräfte’, sprich sie setzten einen guten Teil ihrer Kraft ein, um als Zahnrädchen das Getriebe des Wirtschaftsystems aufrecht zu erhalten. Das Wort ‘Arbeitsmarkt’ spricht dabei ja eigentlich schon für sich.  Der Berufstätige musste sich wie eine Ware auf dem Markt anpreisen und -dienen. Daher auch ’Marktwirtschaft’. Und dass alles dann auch noch unter dem Titel ‘sozial‘” Sie atmete einmal tief durch, um die noch immer in ihr vorhandene und spürbare Empörung ein wenig abzumildern..
“Das ist ja das wirklich Erstaunliche an der damaligen Situation: Die meisten Menschen glaubten fest daran, dass all das ‘ganz normal’ sei! Wie die Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden und fest daran glauben dass dieser Weg wohl der richtige sein müsse, wenn ihn alle gehen” erwiderte er. “Ein wirklich extrem hinterhältiges System, den Menschen zu suggerieren, dass der Kapitalismus die einzige und wahre Gesellschaftsform ist, die den Weg zum persönlichen Glück ebnet Und so hatte fast jeder trotz  der immer ungleicheren Verteilung von Vermögen und Besitz darauf gehofft, doch noch ein Stückchen vom großen Kuchen abzubekommen. Wie hat es damals ein Kabarettist formuliert: ‘Im Kapitalismus kann jeder reich werden, aber nicht alle‘. Obwohl der materielle Wohlstand zumindest in den Industrieländern ja schon ein sehr hohes Niveau hatte. Tja ja, dass mit der Verelendung des Proletariats hat sich zumindest auf der materiellen Ebene und in den Industrieländern nicht wirklich bewahrheitet. Dafür hat es zu einer Art geistigen Verelendung der breiten Bevölkerung geführt. Mental ausgeknockt von Facebook und Microsoft, physisch von Macdonalds und Coca-Cola. Aber Sartre hat s wohl auf den Punkt gebracht:’ Die alte Triebkraft für Revolutionen, die nackte Not, wird in der Tat abgelöst durch eine neue Forderung, die nach Freiheit”.”
“Freiheit wozu? Das war die entscheidende Frage dabei. Die Freiheit, sich auf Kosten anderer oder der Natur zu bereichern, das eigene Wohlsein mehr oder weniger über alles andere zu stellen, war wohl der entscheidende Denkfehler an der Sache. Der Verlust der Mitmenschlichkeit bei aller neu gewonnenen materiellen Freiheit war definitiv die gravierendste Auswirkung in den postindustriellen Gesellschaften. Mein Gott, weißt du noch, wie viele Kriege es zeitgleich auf dem Planeten gab? Wie viele Menschen einen völlig sinnlosen Tod sterben mussten, bloß weil die regierenden Cliquen mehr an ihrem eigenen Machtmissbrauch interessiert waren, als am Wohl ihrer Bürger?” fragte sie mit einem noch immer mit-leidenden Gesichtsausdruck.
“Man hatte damals schon als normaler Bürger selbst in den so genannten Demokratien den Eindruck, dass die jeweiligen Regierungen gar nicht wirklich die Fäden der Macht in der Hand hielten, sondern Marionetten von wesentlich mächtigeren Menschen waren, die das Weltgeschehen immer mehr auf den einen Faktor reduzierten, nämlich dem Wohlergehen der Wirtschaft. Als wenn die Erfüllung des Menschen ausschließlich über seine materiellen Bedürfnisse zu erreichen wäre. Bezahlte Arbeit sozusagen als das Nonplusultra jeglicher Selbstverwirklichung. Und damit als das wirksamste Druckmittel.”
Er schüttelte bei diesen Worten leicht den Kopf, so als könne er heute noch nicht verstehen, wie es jemals zu einer solchen Fehlentwicklung hatte kommen können.
“Das Schlimmste daran war ja, das die Leute jahre- bzw. jahrzehntelang an dieses Dogma glaubten. Selbst diejenigen, die das System durchschauten und innerlich ablehnten, fügten sich am Ende. Es gab ja nur ganz wenige, die sich aus diesem perfiden System befreiten.”
“Dazu musste man aber auch schon ganz schön viel Mut haben. Schließlich gab es weltweit nur noch ganz wenige Nischen, in denen man relativ unabhängig von staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen leben konnte. Ganz zu schweigen von der fast schon heroischen Aufgabe, unabhängig von den so genannten Sachzwängen wie Arbeitsmarkt und Steuersystem eine Familie nicht nur zu gründen, sondern sie auch noch zu ernähren. Das System selbst war schon so allgegenwärtig, dass ein Entkommen nur den Mutigsten gelungen ist.”
“Denk‘ nur an die vielen Ersatzreligionen, die während der letzten Jahre vor der Anhebung sich ausbreiteten. Von Sportereignissen, die jeden vernünftigen Rahmen sprengten - König Fußball regierte ja tatsächlich immer wieder ‘mal die Welt - über die jeden gesunden Menschenverstand übersteigende Hysterie rund um scheinbare Prominenz im Show-Business, bis hin zum Konsumrausch in den so genannten zivilisierten Ländern, der alle Charakteristika eines echten Suchtverhaltens aufwies. Die verzweifelte Suche nach irgend einer Form von übergeordnetem Sinn fürs eigene Leben war in derartige Sackgassen geraten, dass es mich heute noch schaudert beim Gedanken an die dazu gehörigen Auswüchse: Tatsächliche Schlachten unter so genannten ‘Schlachtenbummlern’ rund um ein Ballspiel oder blutige Kämpfe um die besten Schnäppchen beim ganzjährigen Schlussverkauf, mediale Vorbilder, die durch ihr in aller Öffentlichkeit zur Schau gestelltes egozentriertes und unterirdische Verhalten das kulturelle und geistige Niveaus einer ganzen Generation zum Absturz brachten.”
“Gott sei Dank sind die Menschen ja schon vor der Anhebung auf die Idee gekommen, dass sie es nur in einer solidarischen Gemeinschaft schaffen können, zu überleben. Denk’ doch an die vielen Lebensgemeinschaften, die sich am Anfang des 21. Jahrhunderts weltweit verbreiteten. Von den Mehrgenerationenhäusern über die solidarische Landwirtschaft bis zu den klassischen Lebensgemeinschaften wurde damals im wahrsten Sinne schon der Boden bereitet für das, was die Anhebung schließlich für alle brachte:  Den Gemeinschaftssinn zu pflegen und das eigene Ego im Zaum zu halten.”
“Viel dazu beigetragen, dass sich das Bewusstsein allmählich wandelte, haben sicherlich auch Kunst und Literatur. Denk nur an die Geschichte von Richard Bach ‘One’ Er hat eigentlich schon ziemlich exakt vorhergesagt, wie eine Veränderung nur stattfinden kann.”
Sie sah ihn leicht verständnislos an. “Hilf’ mir ‘mal eben auf die Sprünge. Ich kann mich nicht auf Anhieb erinnern.”
“In dem Buch erzählt er die Geschichte einer weisen Schamanin, die ihm erklärt, wie ein nachhaltiger Bewusstseinswandel unter den Menschen funktionieren kann. Sie malte zwei gegenüber liegende Kreise in den Sand und bezeichnete den einen Kreis als den Ort, an dem sich das Leben von seinen natürlichen Ursprüngen entfernt hat. Die Menschen leben in tiefer Unzufriedenheit, in geistiger und seelischer Armut. Der andere Kreis, der durch eine Barriere vom anderen Kreis getrennt ist, stellt den Ort dar, an dem das Leben wieder in seinen natürlichen Bahnen verläuft. Die Gemeinschaft zeichnet sich durch gegenseitige Rücksichtnahme und konstruktives Miteinander aus. Im Lauf der Zeit zieht es immer mehr Menschen weg von dem desolaten Ort hin zum harmonischen Ort. Um die Barriere dazwischen zu überwinden braucht es allerdings eine innere Umkehr jedes Einzelnen. Je mehr Menschen diese Barriere überwinden, desto mehr wächst der Ort der Harmonie. Schließlich hat der Ort der Harmonie so viele Menschen angezogen, dass der Ort der Verzweiflung allmählich verfällt. Das wiederum ist der Zeitpunkt, in dem einige Bewohner des Ortes der Harmonie zurückgehen an den verfallen Ort der Verzweiflung und ihn mit neuer Inspiration wiederaufbauen. Am Ende wird aus beiden zuvor getrennten orten wieder ein Ort der Harmonie, eben ‘One’.”
“Stimmt, jetzt erinnere ich mich. Für die damalige Zeit auf jeden Fall ein sehr weitsichtiger Roman. Genau darum geht es ja schließlich beim so genannten Bewusstseinwandel, dass man sein Leben entsprechend dem jeweiligen Bewusstseinsstand gestaltet.”
“Solche Beispiele wie die Geschichte von Richard Bach gab es ja doch einige und immer wieder im Laufe der Menschheitsgeschichte. So viele kluge und weitsichtige Köpfe sind schon auf diesem Planeten gewandelt und haben andere an ihren Einsichten teilhaben lassen. Genützt hat es jedoch bis zur Anhebung immer nur sehr begrenzt, sowohl räumlich wie zeitlich. Aber es hat mit Sicherheit den fruchtbaren Boden dafür bereitet, dass es überhaupt zur Anhebung kommen konnte. Der Blitz schlägt halt nur dort ein, wo kurz zuvor ein Signal von der Erde ausgesendet wird.” Mit einem etwas selbstgefälligen Schmunzeln lehnte er sich entspannt zurück.

 

Die Ereignisse
“War ja schon eine krasse Zeit, so in der Zeit des Übergangs.” Jetzt war es an ihr, mit einem nachdenklich bis verklärten Gesichtsaudruck den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. “Anfangs dachte man ja, dass es wieder einmal eine dieser einschneidenden, aber nicht wirklich neuen Umbruchsituationen sei. Der Übergang vom  postindustriellen zum digitalen Zeitalter oder so ähnlich. Dass es dann tatsächlich zu dieser alles verändernden und einmaligen Anhebung des gesamten planetarischen Lebens kommen würde, damit hatten, glaube ich, die wenigsten ernsthaft gerechnet. Ich zumindest nicht.”
“Obwohl es ja damals schon hundertfach in allen möglichen Büchern und auf tausenden von Seminaren und Vorträgen vorhergesagt worden war - daran geglaubt haben es wohl wirklich nicht allzu viele. Inklusive meiner Wenigkeit.” Mit einem  zwinkernden Blick lächelte er ihr zu.
“Ist ja auch nicht weiter verwunderlich. Schließlich ist das wahre Ausmaß der Ereignisse von damals so gigantisch, dass es  den normalen menschlichen Vogelkäfig wohl definitiv gesprengt hätte. Manchmal ist es tatsächlich eine Gnade, nicht zu wissen, was alles so auf einen zukommt in der Zukunft.”
“Na ja, andererseits hätte ich mir damals öfter ’mal gewünscht, zu wissen, ob es überhaupt möglich ist, diese Welt in ihrer damaligen Form noch zu retten. Ich war schon sehr oft am Rande des Wahnsinns bzw. der tiefgreifenden Depression beim Betrachten der allgemeinen Lage. Ein bisschen begründete Hoffnung wäre damals schon ganz schön gewesen.” Um seine emotionale Betroffenheit bei diesen Worten zu unterstreichen, zog er lustvoll einen formgerechten Schmollmund.
“Männer und ihre Leiden.” Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen mitleidig an. “Genau dieser -. männliche - Wunsch nach ‘geordneter Veränderung‘, nach einem ‘behüteten Wandel‘, das war es doch, was den schon eingetretenen Bewusstseinwandel während der letzten Jahrzehnte vor der Anhebung immer wieder ausgebremst hat. Verzicht auf Kernenergie bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Kohleverstromung? Unmöglich, da bricht ja die ganze Stromversorgung zusammen. Verzicht auf Pestizide und Insektizide? Unmöglich, da bricht uns ja die ganze Landwirtschaft zusammen. Weg vom alles zerstörenden Individualverkehr hin zu einem ausgewogenen und umweltverträglichen Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs? Unmöglich, da bricht uns ja die ach so wichtige Autoindustrie zusammen. Alte weiße Männer in ihren Anzügen von der Stange verhinderten über Jahrzehnte hinweg tatsächliche Veränderungen. Das Bewusstsein war schon längst so weit, dass es nicht nur kosmetischer Korrekturen an einem ansonsten erhaltenswerten System brauchte, sondern einen radikalen Wandels des Systems an sich.”
“Wenn du dich - wie jetzt gerade - über etwas ärgerst und aufregst, hast du wunderschöne Grübchen um die Mundwinkel herum” flötete er mitten in ihre voller Engagement vorgetragene Rede. “Und natürlich hast du - wieder einmal - recht. Es waren eben tatsächlich vor allem die Männer, die diese Welt ins Chaos gestürzt haben und dann auch noch so getan haben, als wenn alles gar nicht so schlimm sei. Männliches Bewusstsein hat eben schon immer dem weiblichen etwas hinterhergehinkt. Aber gemeinsam sind wir in jedem Fall mehr als die Summe unserer Einzelteile.” Er nahm ihre rechte Hand in seine beiden Hände und küsste sie sehr zart und liebevoll.
“Ja ja, ich weiß schon: Du und dein alles beiseite wischender Charme. Hauptsache, Mann hat seine irdische Ruhe” Sie lächelte ihn mit ihrem ‘Ich-hab’-dich-trotzdem-lieb-Blick an.  
“Aber das die eigentliche Veränderung durch die Jugend angestoßen wurde, und das erst einmal unabhängig von der Geschlechterfrage, ist doch wirklich ein Zeichen dafür, dass auch Männer lernfähige Wesen sind bzw. sein können.” Er zwinkerte ihr verschmitzt zu.
“Stimmt. Die so genannte ‘neue Generation’ hat da Einiges besser gemacht als ihre Vorgänger-Generationen. Weniger Chauvinismus, gerechtere Verteilung bei der Vergabe einflussreicher Positionen. Hat sich wirklich neu angefühlt damals.”
“Wobei es ja auch unter den männlichen Spezies der Vorgänger-Generationen schon immer wahre Vorreiter für die Emanzipation gegeben hat, gelle?” Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht sah er sie erwartungsvoll an.
“Na ja, Ausnahmen - falls sie wirklich Ausnahmen sind und nicht nur Scheinheilige… “ jetzt war es an ihr, ihn mit einem Zwinkern zuzulächeln” …bestätigen eigentlich nur, dass es eine Regel gibt. Und die hat tatsächlich für Jahrhunderte dafür gesorgt, dass diese Welt, die ‘Mutter Erde‘, an den Rand des Kollaps gebracht wurde. Und das vor allem durch machtgeile und skrupellose Männer.”
“Na ja, alles hat eben seine Geschichte und wenn man als Mann in einer von Männern geprägten Welt aufgewachsen ist, hatte man es gar nicht so leicht, dem Klischee vom starken, männlichen Mann zu entkommen.”
“O je o je, sind wir wieder so weit: Eine Runde Mitleid für die armen, von falschen Vorbildern erzogenen und Männerschnupfen gequälten Männern? Jeder Mensch hat schließlich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens die Möglichkeit, sich neu und anders zu entscheiden, Liebster.” Mit durchdringendem Blick sah sie ihn an.
“Schon gut, schon gut”. Er hob beschwichtigend seine Hände. “Wir müssen die damals sicherlich dringend notwendigen, aber unglaublich zehrenden und schier unendlichen Diskussionen und Debatten ja jetzt nicht noch ’mal aufkochen. Fakt ist einfach, Männer und Frauen sind unterschiedlich gestrickt und waren neben der Jugendbewegung wohl der entscheidende Trigger, um die Dinge ins Rollen zu bringen. Ich weiß noch genau, wie die männlichen Machtpositionen immer mehr zerbröselten, weil starke Frauen immer mehr Verantwortung in allen Lebensbereichen übernahmen.”
“Und vorher musste es scheinbar eine Epoche geben, in denen es vor macht- und auch sonst geilen Männern nur so wimmelte. Denk’ nur an die Zeit der Trumps, Putins und Xi Jinpings.”
“Mit Grausen denk’ ich dran. Mein Gott, damals wurde es einem schon nicht leicht gemacht, optimistisch auf die Gegenwart und die Zukunft zu schauen.”
“Ja, und dennoch war es offensichtlich eine notwendige Epoche, um die Menschen - oder zumindest einen großen Teil der Menschen - wachzurütteln und ihren Beitrag zu leisten, damit diese Welt nicht nur eine bessere werden konnte, sondern überhaupt erhalten blieb.”
“Das Gesetz von These und Antithese. Wieder einmal. Oder besser gesagt: Von Antithese und These. Das heißt, nach dem höchsten aller Gesetze, dem Gesetz der Zwei bzw. der Dualität, muss es, um etwas Neues, Besseres hervorzubringen, erst einmal ein abschreckendes Beispiel dafür geben, wie man es besser nicht macht. Entwicklung entsteht schließlich immer aus dem Ringen zweier scheinbar entgegen gesetzter Einflüsse. Somit war sogar ein Donald Trump nicht umsonst da, er konnte immer noch als abschreckendes Beispiel benutzt werden.”

 

Veränderung
“Gott sei Dank wurde er ja noch rechtzeitig von der Flut der dann einsetzenden Ereignisse weggespült.”
“Und nicht nur er. Die eigentlich Mächtigen hinter den Kulissen, wie die Finanz- und Internetkonzerne, wurden immer mehr enttarnt und in ihrer grenzenlosen Gier nach Macht gestoppt. Wenn es damals nicht zu diesem ebenfalls grenzenlosen Bewusstseinswandel gekommen wäre, weiß ich nicht, wo wir heute als Menschheit stünden.”     
“Stimmt, das war das Auffällige an den Jugendbewegungen: Die nationalen Identitäten sind genau wie die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau immer mehr in den Hintergrund getreten. Unser heutiges, als scheinbar selbstverständlich geltendes Ideal vom nationalen Weltbürger, der frei ist von jeglichen Animositäten gegenüber dem anderen Geschlecht, war damals hart erkämpft.”
“Vor allem waren diese Bewegungen - die ja ab einem bestimmten Zeitpunkt gar keine reine Jugendbewegungen mehr waren - nicht nur gegen das etablierte und auf Konkurrenz und Ausbeutung beruhende System, sondern für machbare Alternativen der Solidarität und Nachhaltigkeit.”
“ Don’t just talk about it - do it. Das war wirklich der Durchbruch. Greifbare Alternativen schaffen, um nicht nur darüber zu reden, sondern tatsächlich etwas Konstruktives zu tun.”
“ Vom geldlosen Tauschring über die Solidarische Landwirtschaft bis zu gemeinschaftlichen, generationenübergreifenden Wohnprojekten. Hatte etwas von Aufbruchstimmung in eine neue Zeit.”
“´Der eigentliche Durchbruch kam aber sicherlich erst durch die allmähliche Abschaffung des Geldes und Grundbesitzes. Das Übel an der Wurzel gepackt und den bisherigen Macht- bzw. Ohnmachtsverhältnissen im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füssen weggezogen.” Sie lächelte ihn an in der Erwartung zumindest eines anerkennenden Blickes angesichts dieses in ihren Augen gelungenen Wortspiels.
“Stimmt. Eigentlich kaum noch vorstellbar, dass für eine so lange Zeit der Wert eines Menschen anhand seines Vermögens oder Einkommens gemessen wurde. Was für eine Verdrehung der Tatsachen. Schnöder Mammon als das einzig glücklich machende im Leben, So ein Irrsinn. Dabei war es schon immer klar, dass menschliches Leben nach ganz anderen Maßstäben zu messen ist. Glück als Folge des gesteigerten Bruttosozialprodukts, was für ein fataler Irrweg.”
“Na ja, irren tut der Mensch ja auch noch heute noch. Allerdings bei weitem nicht mehr mit solch nachhaltigen Folgeschäden.”
“Im Nachhinein war es damals ja ein großer Glücksfall, dass es zum endgültigen Zusammenbruch des Banken- und Finanzsystems kam. Und gleich danach die Regulierung bzw. Entmachtung der damaligen eigentlichen Weltherrscher, der Internetkonzerne. Stell’ Dir vor, Google, Facebook und Co hätten ihre Pläne umsetzen können und mit ihrem digitalen Geld auch noch direkt die Herrschaft über die Finanzströme übernommen.”
“Apropos Herrschaft: Dir ist schon klar, dass die Frauen der damaligen Zeit die längst überfällige Entmachtung der machtgeilen Männlein à la Zuckerberg und Page zumindest stark beschleunigt haben?” Sie lächelte ihn spitzbübisch an.
“War ja eigentlich schon immer so im Laufe der Menschheitsentwicklung, dass die Frauen als das eigentlich stärkere Geschlecht den Männern in punkto Weisheit und gesundem Menschenverstand eine Nasenlänge voraus sind. Gut, dass wir heute in einer Zeit leben, in der das nicht nur erkannt wird, sondern auch entsprechend umgesetzt ist. Ohne Frauen in den wichtigen und entscheidenden Positionen der Gesellschaft würden wir wahrscheinlich heute noch im Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken der Alpha-Männchen verharren..” Mit einem Augenzwinkern vergewisserte er sich, dass sie seine nahezu feministischen Äußerungen entsprechend würdigte. Schließlich sah er sich schon lange als einen der hervorragenden Vertreter des Feminismus. “Eigentlich ist es ja im wahrsten Sinne des Wortes nur natürlich, dass diejenigen, die menschliches Leben auf die Welt bringen, bei der weiteren Gestaltung eben dieser Welt ein entscheidendes Wörtchen mitzureden haben. Alles andere ist ja vollkommen widersinnig.”
“Und das war es schließlich über Hunderte von Jahren in dieser von Männern dominierten Welt. So viel Leid und Unglück vor allem wegen dem grenzenlosen Größenwahn von machtbesessenen Männern. Bei all dem, was auch machtbesessene Frauen in der Weltgeschichte  angestellt haben: Summa summarum war es in erster Linie immer wieder männliche Machtgeilheit und Skrupellosigkeit, die zu dieser Aneinanderreihung von Kriegen, Mord und Totschlag, Hunger und Armut über die Jahrhunderte hinweg geführt hat. Ganz zu schweigen von der ebenso jahrhunderte- bzw. jahrtausendelangen Unterdrückung und Versklavung der Frauen als Gebärmaschinen und Haushaltsangestellte.”
“Was für ein riesiges Stück Glück, dass so viele Frauen während der Zeit der Anhebung bereit waren, Verantwortung zu übernehmen. Ohne diesen radikalen Schnitt wäre die neue Gesellschaftsstruktur niemals so schnell umgesetzt worden.”
“Immerhin: Ohne den mehr oder weniger erfolgreichen Kampf für Gleichberechtigung in der Jahrzehnten vor der Anhebung, wäre der Anbruch neuer Zeiten vermutlich nicht so möglich gewesen. Neue Ideen müssen auf fruchtbaren Boden fallen, damit sie wachsen und gedeihen können.”
“Sehr poetisch formuliert, Liebste. Und ich möchte meinen, ein sehr feminin-mütterliche Art, es auszudrücken” Jetzt war es an ihm, sie spitzbübisch anzulächeln. “Insgesamt wäre das, was wir heute als die ‘Neue Zeit’ oder ‘Anhebung’ bezeichnen, ohne die Ereignisse und Entwicklungen in den Jahrzehnten davor eh’ nicht möglich gewesen. Denk’ nur an den wirtschaftlichen und materiellen Wohlstand, der im 21. Jahrhundert alle früheren Epochen in den Schatten stellte. Bei aller noch immer vorhandenen Ungerechtigkeit der Verteilung war die Mehrheit der Weltbevölkerung um einiges besser gestellt als während der Jahrhunderte und Jahrtausende zuvor. Zwar gab es weltweit noch immer Hunger, Armut und Gewalt. Aber im Vergleich zu der Zeit davor war die Zeit nach dem 2. Weltkrieg für die meisten Menschen kein nackter Überlebenskampf mehr, sondern eine Zeit des relativen Wohlstands und der Sicherheit. Immer im Vergleich zu den früheren Zuständen gesehen, natürlich.”
“Ja klar, eine so lange Zeit ohne Kriege und allgemeine Katastrophen wie Massenepidemien und Hungersnöte gab es angeblich noch nie seit Beginn der Zeitrechnung. Zumindest auf Europa  und die Industrieländer bezogen. In anderen Teilen der Welt nahm das Ausmaß und die Intensität so genannter ‘lokaler Konflikte’ dagegen unvorstellbare Dimensionen an. Millionen von Flüchtlingen, die vor Konflikte flohen, die noch immer mit barbarischer Gewalt ausgetragen wurden, wenn auch mit technisch versierteren Mitteln als noch im Mittelalter. Aber der Mensch als Bestie und als eine eigener größter Feind war noch immer das große Problem weltweit, allem scheinbaren Wohlstand zum Trotze.”
“Ist schon richtig. Der Mensch als etwas höher entwickeltes Raubtier, das sich seit Beginn der moderneren Zeitrechnung darin versucht, sich endgültig selbst auszulöschen. Selbst in den wohlhabenden Regionen und Gesellschaften gab es zwar keinen direkten Grund mehr, seinen direkten Nachbarn zu töten, um an dessen Hab und Gut heranzukommen. Der nackte Kampf ums Dasein war wohl eher dem Gefühl gewichen, der oder die andere könnte am Ende noch mehr Wohlstand haben als man selbst. Der Kampf ums Überleben hatte sich verlagert auf den Kampf ums größere Stück vom Kuchen. Auch hier konnte man davon ausgehen, dass der Mensch im Grunde seines Wesens schlecht ist. Neid und Missgunst waren auch in diesen Gesellschaften noch vorhanden, wenn es auch nicht mehr als Regelfall angesehen wurde, dass der andere Mensch, Nachbar hin oder her, als potentieller Feind bzw. Gegner platt gemacht wurde. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, nicht die gleichen Chancen zu haben, wie eben der Nachbar, war scheinbar schon zu allen Zeiten ein gewichtiger Grund zur Unzufriedenheit. ‘Der erste Schritt zum Unglücklichsein ist sich zu vergleichen’. Dem Satz kann ich  noch hinzufügen: Vergleichen und bewerten. Denn in der Bewertung liegt, glaube ich, das eigentliche Problem.”
“Und das scheint ein westlicher Unterscheid seit der ‘Anhebung’ zu sein: Es gibt noch immer die eine oder andere Ungerechtigkeit zwischen den Menschheit, aber die Menschen haben es gelernt, es nicht immer gleich zu bewerten und dadurch alles persönlich zu nehmen. Die Menschen haben es ganz im Sinne des Einsteinschen Spruchs gelernt, andere Menschen tatsächlich als Mit-Menschen und nicht länger als Neben-Menschen wahrzunehmen.”
“Genau, es hat den so genanten Bewusstseinswandel gegeben. Im Zweifelsfalle eben zwei gute für einen schlechten Gedanken.”
Sie hob von einem leichten Seufzer begleitet die Augenbrauen, verdrehte die Augen ein wenig und gab ihm damit zu verstehen, dass sie manche seiner mantrahaft wiederholten Weisheiten schon zur Genüge vernommen hatte.
“Ja,ja, ist schon gut. Ich weiß, ich wiederhole mich des Öfteren. Ich hör’ schon wieder auf damit, meine überbordende Weisheit über Dich zu träufeln.” Er lächelte sie mit einem um Vergebung bittenden Blick an.
“Um zum Thema zurückzukommen: Die Zeit vor der ‘Anhebung’ war wohl auch deshalb notwendig, um für diesen fundamentalen Bewusstseinswandel den Boden zu bereiten. Weg von der destruktiven Egozentriertheit hin zu einer neuen Form des Gemeinschaftsgefühls. Durch den relativen Wohlstand zumindest vieler Menschen hatten diese ja wiederum Zeit und Gelegenheit, sich nicht nur mit sich selbst und ihrem eigenen Überlebenskampf zu beschäftigen, sondern konnten die Lage um sie herum beobachten, studieren und reflektieren. Ein Mensch, der im täglichen Überlebenskampf verstrickt ist, hat dazu normalerweise gar keine Zeit und keinen Kopf. Und dass materieller Wohlstand allein eben auch nicht wirklich glücklich macht, zu dieser Erkenntnis kann man vermutlich nur gelangen, wenn man ihn zumindest einmal erlebt hat. Sonst bleibt es erst einmal nur ein theoretischer Gedanke. Oder gar eine Vision, die sich als Illusion entpuppt. Schon zu allen Zeiten haben sich Menschen Gedanken und Hoffnung gemacht, wie ein Leben ohne materielle Not ausschauen könnte. Vom Paradies über Schlaraffenland bis zu Utopia, immer war die Beseitigung materieller Nöte erst einmal die wesentliche Voraussetzung für alles Weitere. Dass es über die Befriedigung unserer materiellen Bedürfnisse hinaus auch noch andere Bedürfnisse befriedigt werden wollen, weiß man eben spätestens seit dieser Erfahrung des relativen Wohlstands aus eigener praktischen Erfahrung. Und die eigene Erfahrung hat ja bekanntlich den Vorteil völliger Gewissheit, sagt Schopenhauer.” Dieses Mal lächelte er sich gleich im Voraus mit einem um Nachsicht bittenden Blick an.
“Du meinst also, die Leute in der so genannten globalisierten und konsumorientierten Zeit hätten ohne das Kennenlernen und Ausprobieren der Schattenseiten des Wohlstandskapitalismus kein so nachhaltiges Bewusstsein für die wesentlichen Dinge des Lebens entwickelt? Mit anderen Worten: Erst einmal muss ich die Karre so richtig in den Dreck fahren, damit ich feststellen kann, dass ich mitsamt der Karre vom Weg abgekommen bin? Nach dem Motto: Nur wo etwas zugrunde geht, kann wieder etwas Neues entstehen. Anders ausgedrückt: Ohne Antithese keine These. Das entspricht ja auch dem biologischen und ökologischen Prinzip des Regelkreislaufs Ein biologisches oder ökologisches System kann immer nur eine begrenzte Zeit wachsen, bevor es anfängt, sich selbst aufgrund  negativer Folgen ungebremsten Wachstums neu aufzubauen.  Daher kann es ein Wachstum ohne Grenzen zumindest nicht auf diesem Planeten geben. Und scheinbar musste die Menschheit bis an die Schmerzgrenze auch dieses Planeten gehen, damit sie diese Erfahrung macht Tja, ja , die Prinzipen waren eigentlich auch schon vor der Anhebung bekannt. Aber erst durch die akute Verschlimmerung wurde ein genügend großer Teil der Menschheit aufgerüttelt und konnte mit dem  nötigen Erfahrungsschatz und Bewusstseinswandel das Türchen in Richtung nächstem Entwicklungsschritt öffnen.”
“… damit es von der anderen Seite aus weit aufgerissen werden konnte. So hat eben am Ende tatsächlich alles seinen Sinn, selbst der größte Karrendreck.”
Sie sah ihn leicht verwundert und gleichzeitig amüsiert von der Seite an. “Du meinst Dreckskarre?”
“Nein, ich meine schon ‘Karrendreck’: Eben ein Dreck, in dem jeder Karren unweigerlich stecken bleiben muss. Irgend ein kluger Mann hat einmal gesagt, dass die Weiterentwicklung des Universums davon abhängt, wie viel Abfall es produzieren kann. Klingt erst einmal reichlich abstrus. Beim genauerem Durchdenken kann man jedoch erkennen, dass es tatsächlich bei jeder Art von Weiterentwicklung darum geht, sich immer weiter zu verfeinern und dabei immer mehr überflüssigen Ballast abzuwerfen bzw. hinter sich zu lassen. So wie sich der Schmetterling nach der Verpuppung von seiner Raupenhülle befreit oder die Schlange sich immer wieder häutet, damit sie nicht in ihrer alten Haut stecken bleibt, so funktioniert wohl auch beim Menschen der Weg zur persönlichen Entwicklung: Weg von grobstofflichen Werten wie materiellem Besitz und egozentriertem Statusdenken hin zu feineren Ebenen der geistigen und seelischen Bewusstheit und Tiefe. Nur so kann es gelingen, das eigene Ego in ein größeres Ganzes einzubringen und damit in die nächste Entwicklungsstufe einzutreten, individuell und kollektiv.”
Für einen Moment herrschte zwischen ihnen ein Augenblick der Stille. Beide blickten mit großer Intensität auf den sich allmählich zu einem imposanten Farbenspiel entwickelnden Horizont hinaus. Zwischen leuchtendem Orange, Rosa und Purpur bot sich ihnen ein atemberaubend buntes Spektakel, dass sie schweigend und andächtig betrachteten.

 

Hoffnung
“Du meinst also, dass all die kleinen, mittleren und großen Katastrophen, die den Planeten  vor der Anhebung heimsuchten, notwendige Vorstufen waren, um den heutigen Zustand der Verfeinerung zu ermöglichen? Interessanter Gedanke. Wäre vermutlich für die Menschen, die vor der ’Anhebung’ mit wachsendem Entsetzen und  zunehmender Verzweiflung den Zustand der Welt betrachteten - also Menschen wie wir“ bei diesen Worten lächelte sie ihn verschmitzt an ”ein sehr tröstlicher Gedanke gewesen.”
“Definitiv. So lange der Mensch einen Silberstreif am Horizont erkennen kann, ist er in der Lage, vieles zu ertragen und auszuhalten. Wenn er dann auch noch einen tieferen oder höheren Sinn in den aktuellen Geschehnissen erkennen oder zumindest vermuten kann, hilft dies meist über manche Melancholie hinweg, auch über eine, die durch die Größe des Geistes hervorgerufen wird.” Nun sah er sie verschmitzt von der Seite an.
“Na ja, so groß musste der Geist damals ja gar nicht mehr sein, um angesichts der immer offensichtlicher werdenden selbstzerstörerischen Zustände auf der Erde melancholisch zu werden. Dazu genügte an sich ein Blick in Tageszeitungen oder sonstige Nachrichtenmedien. Aber so lange der Mensch sich im eigenen Umfeld einigermaßen sicher fühlt und die vorhandenen Veränderungen nur aus der Ferne wahrnimmt, tritt dieses gewisse Trägheitsmoment ein. So lange meine eigene Bude nicht brennt, sehe ich keinen Grund zur Veranlassung für allgemeine Löschaktionen.”
“Und genau da war ja dann damals der springende Punkt bzw. das hüpfende Komma, dass sich die ´Jugend zu Wort meldete und auf ihr Recht auf eine lebenswerte Zukunft pochte. Nachdem die so genannten Erwachsenen es offensichtlich nicht geschafft hatten, die Welt besser wirklich zu machen, waren es die Jugendlichen, die durch ihre radikale und massive Haltung für den Durchbruch sorgten. Der damit ausgelöste weltweite Bewusstseinswandel hat ja schließlich dazu geführt, dass die andere Seite reagieren konnte. Nur wenn es genügend geistigen Nährboden auf der Erde gibt, können die kosmischen Kräfte ihre heilende Wirkung entfalten.”
“Und wir können heute sagen: Wir waren dabei! Selbst, wenn wir damals kurz davor waren, jegliche Hoffnung auf Veränderung aufzugeben. Schon gar nicht innerhalb unserer Lebenszeit.”
“Ja, ja, immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr …”
“Und die dunkelste Stunde ist vor Tagesanbruch. Noch ‘n Spruch - Kieferbruch. Aber manchmal haben sie tatsächlich geholfen, es weiter auszuhalten, diese Sprüche.”
“Hat sich jedenfalls gelohnt, es auszuhalten.”
Mit diesen Worten sahen sie sich zuerst tief in die Augen, dann blickten sie gemeinsam auf den sich weiter verfärbenden Horizont hinaus und lächelten dabei versonnen.