Beratung


Auf der Suche nach der Wahrheit

Ein (innerer) Dialog


Wenn man sich auf die Suche nach der Wahrheit begibt, gelangt man sehr bald zu der Erkenntnis, dass es sie nicht gibt. Zumindest nicht in der einzig ‘wahren’, d.h. allgemeingültigen Form.

Man stößt auf eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Wahrheiten.

Das Spektrum reicht von der einfachsten, alltäglichen Wahrheit bis zu den großen, existentiellen Glaubensfragen in Religion und Philosophie.

 

Für den einen ist beispielweise ein Leben ohne Morgenkaffee schlichtweg nicht vorstellbar und schon gar nicht erstrebenswert. Das Tagwerk kann nach der felsenfesten Überzeugung und damit persönlichen Wahrheit vieler Menschen ohne dieses morgendliche ‘Hallo-wach-Ritual’ nicht bewältigt werden.

Für den anderen sind Koffein und Nikotin Sucht fördernde Substanzen und machen vor allem den Schwachen hin. Stattdessen greift diese Person genau so regelmäßig zum grünen Tee, weil er ja bekanntlich der Gesundheit zuträglich und wohlmöglich sogar lebensverlängernd ist.

 

So hat jeder selbst im Alltäglichen seine individuelle Wahrheit und manchmal glaubt er sogar, dass er sie für sich gepachtet hat. Dieser mitunter besserwisserische und rechthaberische Umgang mit der Wahrheit zeigt sich im Kleinen wie im Großen. In der Glaubenfrage ‘Tee oder Kaffee’ bis hin zu allgemeinen Glaubensfragen im religiösen - the(tee?)ologischen - Sinne.

 

Ist nun mit dem Auftauchen von Jesus auf der Weltenbühne die Messiasfrage hinreichend beantwortet worden, wie es die Christen behaupten, ist er nur einer von mehreren Propheten, wie es die Mohammedaner glauben, oder ist er ein Vorläufer des noch zu erwartenden Messias, wie es im jüdischen Glauben fest verankert ist?

 

Fragen über Fragen und immer wieder mehrere Antwortmöglichkeiten.Die Wahrheit ist und bleibt wohl in erster Linie subjektiv und verändert ihr Antlitz je nach Standpunkt des Betrachters. Der Mensch hat es wahrlich nicht leicht, sich in diesem Labyrinth der unterschiedlichen und sich teilweise widersprechenden Wahrheiten zu orientieren und zurechtzufinden.

 

“Wohin des Wegs?” fragt ein Wanderer den anderen, “Auf der Suche nach der Wahrheit und dem Licht” schallt es zurück. “Und, schon fündig geworden?” “Aus der Ferne betrachtet ja, bei näherem Hinsehen jedoch stellt man fest, dass es sich um Halbwahrheiten und Irrlichter handelt”.

 

Wie also kann der einzelne wahrheitsliebende und -suchende Mensch sich in diesem Irrgarten der Teil- und Halbwahrheiten orientieren und sich Gewissheit verschaffen? Gewissheit darüber, dass seine eigene, persönliche Wahrnehmung von der Welt nicht völlig abgetrennt und ausschließlich auf ihn selbst begrenzt ist? Wie kann es gelingen, die eigene persönliche Wahrheit mit einer umfassenderen, überindividuellen Wahrheit in Einklang zu bringen, sozusagen unter ’einen Hut’ zu bringen?

 

Gemäß dem Motto “Die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen sind weitaus zahlreicher als ihre Unterschiede” ist die Suche nach Wahrheit gleichsam wie die Suche nach dem gemeinsamen Nenner. Schließlich möchte sich wohl niemand freiwillig der Situation aussetzen, getrennt und isoliert vom Rest der Menschheit und ihrer Wahrheit zu leben.Das Streben nach Gemeinschaft scheint uns ja eh’ in die Wiege gelegt worden zu sein. Der Mensch als soziales Wesen ist wohl eine dieser fundamentalen Wahrheiten, die für die allermeisten Menschen zutrifft.

Warum dann diese ständige Suche nach dem Trennenden, dem scheinbar Unvereinbaren? Warum das geradezu notorische Beharren auf der einen, nämlich der eigenen, als der allgemein gültigen Wahrheit?

 

Von wegen, die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen seien weitaus zahlreicher als ihre Unterschiede. Wenn man sich nur ein wenig um sich herum schaut, stellt man fest, dass es genau zu dieser Frage an Auseinandersetzungen zwischen den Menschen wahrlich nicht mangelt.

Und auch hier gilt: Wie im Kleinen, so im Großen. Ob jetzt der Nachbar berechtigterweise die Früchte seines Baumes, der auf seinem Grundstück wächst und gedeiht, ernten darf, auch wenn sie mitsamt den entsprechenden Ästen über die eigene Grundstücksgrenze hinaus in Nachbars Garten überhängen, dies ist eine Frage, über deren Klärung es wohl schon so manch treffliche nachbarschaftliche Auseinandersetzung gab, mit und ohne Waffengewalt.

Und auch so mancher größere und bewaffnete Konflikt zwischen zwei oder mehreren Staaten hat wohl so oder so ähnlich seinen Anfang genommen. Nur in der Art der Früchte, dem jeweiligen Zankapfel sozusagen, unterscheiden sich diese Konflikte voneinander.

 

Quer durch alle Bereiche des zwischenmenschlichen Lebens zieht sich dieses Prinzip des ewigen Kampfes um die richtig richtige Sichtweise und Wahrheit.  

Immer wieder scheint der Mensch es dabei darauf anzulegen, sich selbst unglücklich zu machen. Indem er beständig den Grundsatz verfolgt, dass der erste Schritt zum Unglücklichsein darin besteht, dass er sich selbst mit anderen vergleicht. Wobei der Vergleich allein ja noch kein wirkliches Potenzial zum Unglücklichsein in sich birgt. In dem Moment aber, in dem der Mensch diesen Vergleich als Maßstab benutzt, um etwas oder jemanden (am Ende sogar sich selbst) als besser oder schlechter zu bewerten, ist definitiv der erste Schritt zum Unglücklichsein geschafft.

 

Woher aber stammt denn nun dieser nahezu zwanghafte Drang, sich selbst so schnell und so häufig wie möglich unglücklich zu machen?

Auf der Suche nach der einzig und ausschließlichen Wahrheit gelingt es den Menschen schließlich schon seit Menschengedenken immer und immer wieder erfolgreich, sich selbst das Wasser der Euphorie und Harmonie abzugraben und sich dabei das eigene Grab der Melancholie und des ewigen Kampfes zu schaufeln.

 

Dabei gibt es doch einige, wenn auch nicht wirklich viele, unumstößliche Wahrheiten. Es ist zum Beispiel derzeit noch so, dass die Sonne normalerweise jeden Morgen aufgeht und dies verlässlicherweise im Osten. Das liegt  unumstößlich daran, dass dieser Planet keine Scheibe, sondern eine Kugel ist und sich um die eigene Achse dreht. Zumindest gilt dies allgemein heutzutage als unumstößliche Wahrheit.

 

Und wie sah es damit bis vor 5-600 Jahren aus? Die Vorstellung von der Erde als Scheibe mit einem über sie hinweg gleitenden Tag- und Nachthimmel galt im Mittelalter schließlich für Hunderte von Jahren als Ultima Ratio, als der Weisheit bzw. Wahrheit letzter Schluss. Und überhaupt: Wer kann den schon aus eigenem Erfahrungswert die These von der Erde als Kugel, die sich um die eigene Achse dreht, bestätigen? Schon ’mal gesehen, das Ganze? Gleich, wo ich mich umschaue auf der Welt, ob ich auf dem höchsten Gipfel stehe oder aufs scheinbar unendliche Meer hinaussehe: Von einer Kugelform und der entsprechenden Krümmung des Horizonts konnte ich bislang noch nichts wahrnehmen. Auch bin ich bisher noch nicht durch die Wucht der Zentrifugalkräfte, verursacht durch die angebliche Drehbewegung der Erde, so ins Schleudern geraten, dass es mich wie beim Karussell nach außen gezogen hätte. Und das, obwohl behauptet wird, die Erde drehe sich mit sage und schreibe 400 Stundkilometern pro Stunde um die eigene Achse, plus einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1200 km/h, mit der sich die Erde wiederum angeblich um die Sonne drehe. Selbst die angezeigte Geschwindigkeit auf meinem, im Fahrzeug angebrachten Geschwindigkeitsmessinstrument - auch Tacho genannt: Habe ich sie mit eigenen Mitteln gemessen oder bin ich auch dabei nicht auch auf die Wahrheit der zuständigen Ingenieure und Techniker angewiesen?

 

Also bin ich letztlich auf die Erfahrungswerte anderer bzw. deren Berechnungen und Bilder angewiesen. Und wir wissen schließlich alle im Zeitalter der Fake News, wie leicht es ist, Behauptungen aufzustellen und sie mit so genannten Beweisen zu untermauern, auch wenn sie noch so hanebüchen sind. Ich habe jedenfalls noch keinen Blick von außen auf diese vorgebliche Kugel werfen können und habe bisher auch noch keinen Menschen persönlich kennengelernt, dem dies vergönnt war. Und selbst wenn: Wer garantiert mir dafür, dass die Schilderung eines anderen Menschen tatsächlich der Wahrheit entspricht?  Die Erfahrung lehrt auch hier, dass es gerade im zwischenmenschlichen Bereich unendliche Möglichkeiten gibt, die Wahrheit zu verdrehen. Nicht umsonst heißt es, dass es nichts Gewisseres gebe, wie die eigene Erfahrung. Oder, wie Schopenhauer es formulierte: “Die eigene Erfahrung hat den Vorteil völliger Gewissheit.

 

Nein, nein, da braucht es schon überzeugendere Beispiele für unumstößliche Wahrheiten. Gut, das mit dem Sonnenaufgang im Osten und dem entsprechenden Gegenstück, dem Untergang im Westen, das immerhin kann ich aus eigener langjähriger Erfahrung bestätigen. Wobei: Das mit dem Sonnenauf- bzw. -untergang ist ja auch wieder nur eine dieser sehr subjektiven, in diesem Fall erdgebundenen Wahrheiten: Von einem außerplanetarischen Standpunkt aus betrachtet geht die Sonne weder auf noch unter, sie ist einfach da und strahlt mehr oder weniger vor sich hin (noch!).

Fragen über Fragen, wahrheitsgemäße Antworten sind schwer zu bekommen.

 

Wie sieht es beispielweise mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Menschen tatsächlich aus?

Wir alle leben ja in einem Zeitalter, dass von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt ist. Diese werden immer wieder mit einem Anspruch postuliert, als verkündeten sie die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Dabei gewinnt man gerade in Zeiten der Pandemie mitunter den Eindruck, dass die Wissenschaft als neues religiöses Dogma angesehen wird. Und das bei all den mehr als widersprüchlichen Aussagen, die die Wissenschaft über viele Jahre und Jahrzehnte immer wieder hervorgebracht hat..

Die Wissenschaft hat nun festgestellt, dass die genetische Ausstattung des Menschen - also seine Erbanlagen - zu 98 % identisch sind mit denen der Rhesus-Affen. Zu den Hausschweinen sollen es immerhin noch 96 % sein und zu manchen Baumarten sage und schreibe noch 60 %. Jetzt frage ich Sie, liebe/r Leser/in: Entspricht diese so genannte wissenschaftliche Wahrheit ihrer eigenen Erfahrung und damit Wahrheit? Ist es nicht vielmehr unsere aller persönliche Erfahrung, dass selbst der Vergleich mit unserem nächsten Mitmenschen, d.h. vom Mitfahrer in der U-Bahn über den Nachbarn bis hin zur eigenen Partnerin bzw. Partner eine ganz andere Wahrheit offenbart? Nämlich der schier grenzenlos scheinenden Unterschiedlichkeit in der Art des Ausdrucks, der Denkweise und des Verhaltens?

 

Ohne dieses Thema an dieser Stelle vertiefen zu wollen, aber gerade in Bezug auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mann und Frau scheinen mitunter wahre Welten zwischen den Geschlechtern zu liegen. Zumindest ist dies wiederum meine eigene, subjektive Erfahrung und damit Wahrheit. “Männer und Frauen sind zwei unterschiedliche Planeten, die um den gleichen Fixstern kreisen Ab und zu kreuzen sich ihre Bahnen, aber sie werden immer verschiedene Planeten bleiben”. So formulierte es einst Ernst Jünger. Andere wiederum behaupten, Männer kämen vom Mars und Frauen von der Venus. Ich würde an dieser Stelle hinzufügen: Männer und Frauen stammen aus zwei verschiedenen Universen, die auf diesem Planeten zusammentreffen, um herauszufinden, wie es sich mit der jeweiligen Wahrheit des anderen Geschlechts verhält. Das Experiment ist offensichtlich als Langzeitstudie angelegt.

 

Wie also kann man diese unterschiedlichen Wahrheiten - die der wissenschaftlichen Theorie der Gleichheit der Gene und die der eigenen Erfahrungswerte -  miteinander in Einklang bringen? Wo liegt der Schlüssel zum Verständnis? Welcher Wahrheit vertrauen wir am Ende mehr und eher?

 

Am Ende geht die Suche nach der Wahrheit genau so aus, wie in der Geschichte des Königs der Blinden:

Eines Tages ging in seinem Reich das Gerücht um, ein unbekanntes und unheimliches Tier sei zum ersten Mal auf dem Gebiet des Reiches eingedrungen. Der König sendete daraufhin vier Kundschafter aus, um herauszufinden, um welches Tier es sich handelt und ob von ihm Gefahren zu befürchten seien. Die Kundschafter wurden auch recht bald fündig und erstatten dem König Bericht. Der erste beschrieb das fremde Tier als eine feste mannsdicke Säule, der zweite als einen beweglichen Pinsel, der an einem langen Seil festgebunden schien. Der dritte sprach von einem wachsartigen, sehr breiten und fleischigen Lappen, der sich wedelnd zu bewegen schien. Der vierte Kundschafter berichtete schließlich von einem feuchten, rüsselartigen Schlauch, der Luft einsaugte und ausstieß.

 

Die Moral von der Geschichte: Offenbar gibt es die einzige und ausschließliche Wahrheit nicht wirklich. Sie liegt eben immer wieder im Auge des Betrachters bzw., wie in dem Fall der blinden Kundschafter, am jeweiligen Standpunkt und Tastsinn des Einzelnen. Wir alle scheinen in erster Linie auf unsere eigenen Wahrnehmungen (!) angewiesen sein und müssen sie beständig hinterfragen lassen, gemäß dem Motto: “Wer die Wahrheit wissen will, muss den Menschen widersprechen”.

 

Es wäre schon viel gewonnen für das zwischenmenschliche Zusammenleben, wenn wir diese Unterschiede in der Wahrnehmung als tatsächliche Wahrheit akzeptieren würden. Damit wäre zumindest der Grundstein gelegt für die Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -handelnden, sei es der Nachbar hinterm Gartenzaun, sei es der eigene Ehemann bzw. -frau oder der fremde Mensch an sich. Dieses Konzept könnte dann ausgedehnt werden bis hin zur Akzeptanz anderer Gesellschafts- und Religionssysteme.

Ein weiter Weg liegt noch vor uns, .denn in der aktuellen Situation hat man eher den Eindruck, dass die meisten Menschen nach dem Motto des fränkischen Kabarettisten Frank-Markus Barwasser alias Erwin Pelzig verfahren, der den Begriff der Toleranz folgendermaßen definierte: “Toleranz ist die Art von Geisteshaltung, die andere haben sollten, damit sie meine Meinung übernehmen”.

 

Im Zweifelsfall sollten wir uns daher im Leben wohl eher an die Menschen halten, die die Wahrheit suchen, als an diejenigen, die glauben, sie gefunden zu haben.